"Requiem" in Aix-en-Provence: Ausdrucksstarke Bilder beschreiben die Endlichkeit als verdrängte Alltagserfahrung. Hier mit dem fabelhaften Chor.

Soghaftes Welttheater

Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem

Theater:Festival d’Aix-en-Provence/Théâtre de l’Archevêché, Premiere:03.07.2019Regie:Romeo CastellucciMusikalische Leitung:Raphaël Pichon

Diesmal lag die Verzögerung des Beginns der Vorstellung nicht am allemal arbeitskampflustigen französischen Hilfspersonal des Festivals in Aix-en-Provence. Die wollten Pierre Audi seinen Start als neuer Intendant in Südfrankreich offenbar nicht vermasseln. Diesmal lag es einfach am Wetter. Ein bei der Hitze an sich hochwillkommener Regenschauer verlegte den ohnehin schon späten Vorstellungsbeginn der Eröffnungspremiere des 71. Jahrgangs von Frankreichs wichtigstem Musikfestival auf 23 Uhr. Was aber niemandem etwas ausmachte. Und das Baby, das am Ende von Mozarts Requiem (neben dem kleinen Dreikäsehoch-Solisten) für Rührung sorgte, wird das wohl gar nicht recht mitbekommen haben. Für das Publikum hat sich das Warten gelohnt und die etwas angefeuchteten 1200 Holzsitze im Théâtre de l’Archevêché bemerkte man gar nicht.

Romeo Castellucci hat Mozarts „Requiem“ inszeniert. Wobei man das nur bedingt so sagen kann. Denn es ist eigentlich mehr eine Begegnung des originären Allround-Künstlers mit dem Genie Mozart und die will auf nicht weniger als gleich die ganze Schöpfung hinaus. Dass jeder alles im Detail versteht, ist dabei weder der Ehrgeiz noch das Ergebnis. Dass man aber eine Ahnung von dem bekommt, was Castellucci bewegt und was uns alle bewegen könnte, auch wenn es verschüttet ist – das erreicht er.

Unter Castelluccis Arbeiten der letzten Jahre gibt es im Grunde zwei, die man als direkte Vorarbeit zu diesem eindrucksvollen Abend in Aix-en-Provence betrachten kann. Das eine war seine Matthäus-Passion in einem so überdimensionierten wie überambitionierten White Cube in den Hamburger Deichtorhallen vor drei Jahren. Dort freilich erschloss sich sein zeichenknappes Theater nur, wenn man die Szenenerläuterungen studiert hatte. Die vorgeführten Gegenstände und Aktionen blieben in einem meist banalen, lediglich illustrierenden Verhältnis zur Musik, mit zum Teil makabren Kurzschlüssen zwischen Passionsgeschichte und Wirklichkeit – etwa wenn das metaphorische „Abendmahl“ mit einem bescheidenen Abendbrot bebildert wurde, das ein Hospiz-Patient bereitet hatte, der am Karfreitag 2015 an einem Hirntumor verstorben war. Oder wenn zur „Kreuzigung“ Statisten zwischen 9 und 93 Jahren ein Probehängen an einer Reckstange absolvierten. Zwischen diesen Exerzitien aus Bedeutungshuberei und seinem Theaterwurf jetzt liegt noch seine so radikal andere und in zwei völlig verschiedene Zugänge zerfallende „Zauberflöte“ in Brüssel.

In Mozarts „Requiem“ ist Romeo Castellucci als genialischer Theatermacher jetzt ganz bei sich. Und bei seiner Art eines eigensinnigen Theaterzugangs zur Wirklichkeit, zum Menschen und seinen Ängsten und Hoffnungen. Ja, zur ganzen Schöpfung. Denn auf nichts weniger läuft der Abend hinaus. Auch wenn er im Hinblick auf eine etwaige klare Handlung gänzlich im Ungefähren bleibt. Sein Trick besteht an diesem Abend nicht nur darin, ein manchmal rätselhaftes, aber immer eindrucksvoll der Musik entwachsendes Bühnentheater zu inszenieren, sondern auch die Stichworte zu liefern, die zusätzlich ein Kopftheater entfesseln, das manchmal mit dem Bühnengeschehen läuft, manchmal dagegen oder auch unabhängig davon. Er projiziert in einer ununterbrochenen Folge Begriffe an die Rückwand, die nicht weniger als (fast) alles, was ist und was war, im Visier haben. Alles, was wächst, kräucht und fleucht, als Natur vorhanden ist, vom Menschen hinzugefügt oder zerstört wurde, taucht da auf. Bis hin zu den diversen -ismen oder Tempeln, ja der Musik und diesem konkreten Datum des 3. Juli 2019. Am Anfang verwirrend, wird das zu einer atemberaubenden assoziativen Begleitmelodie.

Es beginnt mit einer ganz stillen Szene. Eine alte Frau hat nur ihren Fernseher als Gesellschaft, raucht eine Zigarette, geht zu Bett und verschwindet darin. Und wohl ganz von dieser Welt. Dazu erklingt zunächst Gregorianisches a capella, das der Dirigent des Abends Raphaël Pichon arrangiert hat, sowie zwei andere Mozart-Komponistionen (Meistermusik KV 477b und Miserere Mei KV 90). Bis dann Pichon und sein 2006 gegründetes Orchester Pygmalion mit dem „Requiem Introitus“ einsetzen.

Was Castellucci entfesselt, ist weniger eine Totenmesse, als ein Welttheater mit zum Teil rätselhaften, meist aber grandios eingängigen Bildern. Wenn schwarze Fahnen in der Dunkelheit geschwenkt werden, entfaltet die Trauer über den Tod und das physische Verschwinden eines Menschen einen Sog. Wenn der in jeder Hinsicht fabelhaft agierende Chor in Alltagskleidung auftritt und eine junge Frau über die Köpfe hebt, dann kommt die Endlichkeit als verdrängte Alltagserfahrung in den Blick. Wenn später Siobhan Stagg (Sopran), Sara Mingardo (Alt), Martin Mitterrutzner (Tenor) und Luca Tittoto in weißen Folkloregewändern ein kleines Mädchen mit Honig begießen, sie mit Ruß, Federn und Blut überschütten und wie eine archaische Priesterin ausstatten, dann rückt der Versuch der Menschen ins Visier, sich für das Unbegreifliche ein Bild zu machen, es zu personalisieren. Oder wenn ein Autowrack auf die Bühne geschoben wird, in dessen verbeulte Kühlerhaube sich nach und nach Menschen wie im Augenblick der Kollision hineinschmiegen, sie dann nebeneinanderliegen wie Unfallopfer: Da rückt ein fernes überweltliches musikalisches Geschehen in die Welt der Möglichkeiten unseres Alltags von heute vor. Und wenn am Ende die weiße Verdeckung der Bühnenwände abgerissen wird, und die Menschen im Dunkel des Vergehens nackt und verängstigt zusammenrücken, dann ruft das wiederum tief eingegrabene Bildvorstellungen von einem Jüngsten Gericht wach.

Zum Schluss richtet sich der Bühnenboden effektvoll ganz langsam zu einer Tabula rasa auf und lässt all den Unrat, den die Menschen dort zurückgelassen haben, nach unten rutschen. Plötzlich hebt der wunderbare siebenjährige Knabe Chadi Lazreq hinter dem Dirigenten noch einmal zu einem gregorianischen „In paradisum“ an und zieht die Zuschauer in seinen Bann. Das wird nur noch übertroffen von dem (echten) Baby, das uns bäuchlings von der von der leeren Bühnenmitte aus anstaunt. Was für ein Bild!