Zwei Tänzer:innen stehen in hautengen beigen Körperanzügen nah bei einander. Die vordere Person zeigt mit ihrem Arm in Richtung Kamera, die hintere hat ihren Arm um den Hals der vorderen Person gelegt und schmiegt sich an sie.

Stumm und schmerzverzerrt

Sharon Eyal: Delay the Sadness

Theater:Ruhrtriennale, Premiere:12.09.2025 (UA)Regie:Sharon EyalKomponist(in):Josef Laimon

Sharon Eyal geht in ihrem jüngsten Werk für die Ruhrtriennale in Bochum neue Wege. Nicht nur die wogende Gruppe steht im Fokus wie sonst bei der israelischen Choreografin, sondern Paarkonstellationen, die sich gemeinsam dem Schmerz stellen.

Ein stummer Schrei – er bleibt in Erinnerung. Die Hand am Mund, der Mund weit aufgerissen, der Körper schmerzverzerrt. In Zeitlupe biegen sich die Körper, dann wieder zucken sie. Ungewöhnlich ist dieses neue Stück von Sharon Eyal. Hat sich die israelische Choreografin bisher vor allem einen Namen als Meisterin äußerst effektvoller Gruppenchoreografien zu Technosounds gemacht, gibt sie diesmal Pas de deux breiten Raum, lässt die vier Paare miteinander verschmelzen, mal zärtlich, mal verkrampft stampfend. Manchmal weiß man nicht, ob sie sich nur halten oder sich gegenseitig festhalten. Vom Werden und Vergehen scheint ihr neues Stück zu erzählen, vom Kommen und Gehen, vom göttlichen Wunder und den tiefen Abgründen der Seele.

Delay the Sadness“ nennt sich die neue Choreografie, die nun in der Bochumer Jahrhunderthalle bei der Ruhrtriennale ihre Uraufführung erlebte. Der vor zwei Jahren verstorbenen Mutter sei das neue Werk gewidmet, erfährt man beim einführenden Gespräch. „Delay the Sadness“ beziehe sich auf ein hebräisches Lied, das die Mutter gern gehört habe. Emotionen stehen im Mittelpunkt, wie so oft bei der Israelin, die sich 18 Jahre bei der berühmten Batsheva Dance Company mit der Bewegungssprache Gaga auseinandersetzte, bevor sie dort ihre ersten eigenen Choreografien schuf.

Von innen nach außen

Die beigen Körperanzüge der vier Frauen und Männer sind durchzogen mit roten Striemen, als könne man die Adern durch die Haut hindurch schimmern sehen. Hier wird das Innere nach außen gekehrt, Emotionen bloßgelegt. Die Kostüme stammen von Eyal und ihrem Partner Gai Behar selbst, mit dem sie 2013 die Kompanie L-E-V gründete, die sich mittlerweile S-E-D nennt, seit das Paar in Paris ansässig ist. Die Anzüge verdecken Individualität und Geschlecht. Alle sehen gleich aus, mit zurückgegelten Haaren und rosa geschminkten Wangen.

Zunächst schreiten die Performer mit großen Gesten auf scheinbar verinnerlichten Bahnen auf und ab und im Kreis. Sprünge und Drehungen lassen Ballett-Reminiszenzen an Balanchine und Nijinsky kurz aufscheinen, bevor die Gruppe im Gleichklang wieder in das für Eyal typische Trippeln auf Zehenspitzen verfällt, das den Körpern etwas Maschinenhaftes verleiht. Der Beat treibt sie alle an. Anfangs scheint er noch zu schmeicheln, hinterher wird er stampfender, treibender, mitreißender. Die Komposition stammt diesmal von Josef Laimon, der auch Chorgesang und wispernde Stimmen unter seine Synthesizerklänge mischt.

Formationen im Gleichklang

Eyal gelingt wieder ein verrätselter Mix aus ungewöhnlichem Bewegungsrepertoire und gestischen Tänzen bis zu komplexen Gruppengebilden, die das Ensemble mit ihren biegsamen Körpern in technischer Präzision formt. Alle halten eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger gen Himmel, wie einen Hinweis auf das Göttliche. Dann wieder wollen sie etwas darreichen – wem und was bleibt offen. Die Gruppe ist immer in Bewegung, die Atmosphäre wechselt. Mal ziseliert goldenes Licht von der Seite die Körper, mal sammeln sie sich in einem Scheinwerferkegel zur wogenden Masse.

Vor schwarzer Bühne stehen unterschiedliche Tänzer:innen in Posen aufgereiht. Einige stehen zu zweit, ineinander verschlungen, andere allein.

Die Tänzer:innen zeigen Nähe und Distanz. Foto: Vitali Akimov

Solche Szenen kennt man von Sharon Eyal. Ungewöhnlicher sind die langen Duette der Paare, die sich mal zärtlich, mal kämpferisch im Gleichklang zuckend begegnen. Eng umschlungen wabern sie gemeinsam. Die Frau beugt sich zu einem Kuss zu dem Mann hinunter, später scheint ein Mann seine Partnerin zärtlich auf die Brust zu küssen. Dann wieder hält ein Mann das Bein einer Frau hoch, lässt sie erstarren in der unnatürlichen Pose. Es entsteht der Eindruck eines Geschlechterkampfs.

Doch am meisten irritiert der stumme, endlos lange Schrei mit der Hand am Mund, der direkt von Munch inspiriert zu sein scheint. Das Publikum ist begeistert; noch vor dem Applaus ertönen erste Bravorufe.