Szene aus "Shechter/Montero"

Schillerndes Doppel

Goyo Montero / Hofesh Shechter: Anthem / tHE bAD

Theater:Staatstheater Nürnberg, Premiere:29.04.2023 (DE)Komponist(in):Owen Belton

Mit zwei Choreografien von Goyo Montero („Anthem“) und Hofesh Shechter („tHE bAD“) beweist das Staatstheater Nürnberg mal wieder seine Exzellenz in Sachen zeitgenössischer Tanz.

Absolut zeitlos, hyper-energetisch und ziemlich intuitiv – so beginnt der mitreißende neue Premierenabend „Shechter/Montero“ des Staatstheater Nürnberg Balletts. „Anthem“ heißt das Eröffnungsstück, das vom ersten Augenblick an das Publikum mit hineinzieht in ein beständig im Fluss befindliches Gruppengefüge. Kreiert hat Goyo Montero die Choreografie ursprünglich für die rein aus brasilianischen Künstlerinnen und Künstlern bestehende São Paulo Companhia de Dança. Das war 2019, noch zur Regierungszeit von Präsident Jair Bolsonaro. Nun ist die – für den seit mittlerweile 15 Jahren in der Frankenmetropole überaus erfolgreichen Ballettchef Montero – laut eigener Aussage ungewöhnlich politische Arbeit auch ohne direkten Bezug zu aktuellen oder seinerzeitigen Geschehnissen erstmals in Deutschland zu sehen. Die nun hauseigene Version besitzt durchaus Uraufführungscharakter – wegen der Erweiterung um vier weitere Protagonisten und durch die internationale Heterogenität wie Diversität der stark schillernden Nürnberger Truppe.

Die 18 Tänzerinnen und Tänzer sehen aus, als seien sie aus dem Staub einer kargen Wüstenlandschaft erwacht – akustisch eingebettet in ein lautes, anfangs noch regelmäßiges Atemgeräusch. Ein Sound, der sich bald – und fortan permanent – verändert und der in seinen insgesamt sechs durchkomponierten Sequenzen um singende, skandierende und protestschreiende Stimmen sowie zuletzt ein tief gutturales Raunzen bereichert wird. Der Kanadier Owen Belton, seit langem Monteros musikalischer Kreativpartner, hat unter Einbindung und Verfremdung seiner eigenen Stimme eine idiomatische Musik komponiert, die sich aufzufächern vermag wie die Tänzer, wenn diese über die ganze Bühnenfläche ausschwärmen.

In einem Stückabschnitt erklingt plötzlich ein Marsch. Eine Art Hymne ertönt, so als würde sie von Massen in einem Stadion dahingeschmettert. Das Ensemble ist wie Athletinnen und Athleten für ein Siegbild formiert: hinten stehend, vorne kniend. Sie zerfallen in einen Kanon von vier sich jeweils unterschiedlich bewegende Parteien. Später prallen Gruppen aufeinander, kommt es zu Auseinandersetzungen und Handgreiflichkeiten. Die Protagonistinnen und Protagonisten stimmen passagenweise lauthals live in die digital erzeugten Klänge ein, von denen sie angetrieben oder zu choreografischen Aktionen motiviert werden. Besonders eindrücklich bleibt in Erinnerung, wie Einzelne aus dem Gemenge heraus aufeinander zu rennen und Paare in Hebungen miteinander kollidieren. Gewaltvolle Momente, die Belton noch unmissverständlich – beispielsweise durch das Geräusch von zerbrechendem Glas – betont.

Fallen und Aufwallen

Alles in allem wird dem Publikum ein in seiner Abstraktion sehr stimmungsintensives Gesamtkunstwerk-Erlebnis geboten. Es handelt in jeder Sekunde von uns Menschen – von Neugier, Zärtlichkeit, der Suche nach Halt, Erdung, Möglichkeiten, die eigenen Ressourcen wieder aufzuladen und dem ewigen, zerstörerischen In-Konflikte-Geraten. In einem dunstigen, von Dunkelheit gesäumten Raum ragen die Akteure im ersten Bild vom Boden auf, gestaffelt zu einer Reihe kraftvoll in sich pulsierender Individuen – äußerlich schlammverdreckt (Kostüme mit Körperpainting: Fábio Mataname), innerlich entschlossen, Wirkung zu entfalten. Ihre Arme sind emporgereckt, die lockergelassenen Hände werden heftig geschüttelt. Man könnte sie für wild oszillierende Antennen halten oder fragile Wahrnehmungs-Sensoren vergleichbar sensiblen Sinnesorganen oder Fühlern von Insekten.

Teil für Teil sinkt das Ensembles zu Boden und richtet sich wieder auf: Gruppenbewegung im Strömungsmodus einer sich verselbständigenden Welle. Noch ganz ohne klare Definition oder irgendein erkennbares Ziel. Später wird die niemals ihren losen Zusammenhalt völlig verlierende Einheit immer wieder in einzelne Bestandteile zerfransen, werden sich für kurze, bisweilen solistisch sehr virtuose Interventionen oder spannungsgeladene Duos vor Persönlichkeit schier berstende Körper aus dem Ganzen herauslösen. Am Ende liegt das gesamte Ensemble am Boden. Nur eine Tänzerin ist vorne links auf der Bühne stehen geblieben. Sie hebt die Arme. Ihre Hände beginnen zu wedeln. Ein erhabener und unvergesslicher Schlussmoment.

Den Groove spüren

Nach der Pause wird man von fast identischen Handbewegungen in Hofesh Shechters „tHE bAD“ überrascht. Zwei Wochen war der israelische Choreograf, der 2018 mit „Disappearing“ schon einmal in einem der mehrteiligen Programme Monteros vertreten war, in Nürnberg zu Gast. In Cédric Klapischs Spielfilm „Das Leben ein Tanz“, in dem Shechter sich selbst spielt und seine eigene Musik beigesteuert hat, konnte sich im vergangenen Jahr quasi jeder ein Bild von ihm als Chef seiner eigenen zeitgenössischen Truppe machen.

Nun hat der international gefragte Künstler, der auch für den bisweilen tosenden Soundmix zu „tHE bAD“ verantwortlich zeichnet – mit Anleihen bei dem amerikanischen Rapper Mystikal und bei Renaissancemusik von Jordi Savalls Alte-Musik-Ensemble Hespèrion XXI – eine neue Fassung mit zwölf Tänzerinnen und Tänzern der Nürnberger Kompanie erarbeitet. Das sind sieben Mitwirkende mehr als in der Originalbesetzung von 2015 – für ein Stück, das aus der Idee heraus entstand, bei den Proben erst einmal auf alle sonst üblichen Strukturen oder Muster zu verzichten und frei zu erkunden, wohin das Erspüren eines „Groove“ aus Rhythmus und Emotionalität choreografisch führen könnte.

Wie bei Monteros „Anthem“ entwickelt sich auch in „tHE bAD“ alles und jeder Schritt aus der Gruppe heraus. Obwohl sich beide Werke in ihrer motorischen Sprache, ihrem Bewegungsduktus, ihrer musikalischen Begleitung, dem Zusammenspiel und im – vom Ensemble geforderten – Ausdruck stark unterscheiden, harmonieren sie erstaunlich gut miteinander. So groß die Ähnlichkeiten auch sind, so unterschiedlich ist, was an Inhalten, Gefühlen und Allüren über die Rampe schwappt. Shechter, dessen Markenzeichen eigentlich drastische Bilder sind, steuert dabei interessanter Weise viel Ausgelassenheit bei. Oft lässt er seine Figuren herrlich in geradezu überzogenen Moves regelrecht ausflippen – um sie anschließend für einige Passagen zwischendurch urplötzlich zu klaren Formationen, strengen Posen und Reihungen oder einem getragenen gemeinsamen Dahinschreiten zu verpflichten.

Kontaktaufnahme

Hatte Shechter 2017 in seinem bahnbrechenden Stück „Grand Finale“ das Publikum mit einem brachialen Totentanz voller Endzeitstimmung und einem niemals abreißenden Gefühl der Beklemmung konfrontiert, so steckt die Crew exaltierter Partyfreaks diesmal in hautengen goldenen Latexkostümen. Ist die Lichtstimmung im Raum hell, zeichnet sich das Spiel der trainierten Muskeln und Körper darunter beeindruckend schön ab. In einem der Tableaus, in denen sich kleine Bewegungseinheiten schnell hintereinander wiederholen, wird das weiche Zick-Zack-Schlängeln vom Oberkörper über den Rücken bis hinunter zu dem im tiefen Plié nach hinten gestreckten Po besonders wirkungsvoll durch die Seitenansicht aller herausgestellt. Von derartigen Tolle-Tänzer-Effekten wimmelt es in „tHE bAD“ nur so – bis hin zu in sich verfließenden Impressionen unter stark gedimmten Lichtverhältnissen, wenn nur mehr die Umrisse der dahinschwingenden Körper aus einem Dunkelblau herausglitzern.

Dass das Ensemble absichtlich aus der Rolle fällt und sich kollektiv in einer Pause die Glieder weichklopft gehört ebenso dazu wie das häufige direkt zum Zuschauer oder zur Zuschauerin Blicken oder das Animieren des Publikums zum Mitklatschen. Am Ende prescht das formidable Dutzend zeitgenössischer Moriskentänzerinnen und -tänzer quasi über die Rampe hinaus und vollführt unmittelbar vor der ersten Sitzreihe eine brave, traditionsverhaftete Reverenz – den Arm akkurat vor der Brust und die Hand am Herzen. Damit gelingt Shechter ein finaler Wow-Effekt sondergleichen. Und alle inhaltlichen Deutungsmöglichkeiten bleiben wunderbar offen