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Scheinheiligkeiten

Daniel Kehlmann: Heilig Abend

Theater:Theater an der Ruhr, Premiere:22.09.2017Regie:Simone Thoma

Man stelle sich folgendes Verhör vor: Eine linksintellektuelle Philosophie-Professorin wird verdächtigt, einen Bombenanschlag zu planen, an Heiligabend um Mitternacht, um auf die Missstände der Welt aufmerksam zu machen. Es ist etwa halb elf und die Zeit rennt. Zwischen der Verdächtigen (Judith) und dem Verhörenden (Thomas) entbrennt ein intensiver Diskurs, es folgen sogar noch einseitige Flirtversuche, bis die Uhr zwölf schlägt. Klingt etwas abwegig? Genau. Denn so aktuell und realistisch die in den Gesprächen beschriebenen Ungerechtigkeiten der Welt – von Hunger über den Terror bis hin zur digitalen Manie unserer Zeit – sind, so konstruiert wirkt doch das Setting in Daniel Kehlmanns neuem Theaterstück „Heilig Abend“, das Simone Thoma am Mülheimer Theater an der Ruhr in Szene gesetzt hat. Dabei gibt es sprachlich erst mal wenig bis gar nichts an den Dialogen auszusetzen, und es werden hochaktuelle Themen gewälzt und Fragen aufgeworfen: Zu welcher Art von Überwachung und Angst führt der Terrorismus, wenn „das System“ geschützt werden will? Wie schützenswert und freundlich ist überhaupt unser System, wenn man es von außen betrachtet, beispielsweise aus der Perspektive des hungernden Flüchtlings? Und: Lenkt uns der Terrorismus religiöser Fanatiker von den übrigen globalen Problem ab, zum Beispiel von der extrem ungleichen Verteilung der Güter?

Gleichzeitig aber haftet der Szenerie der Vorlage eben etwas Künstliches an, wirkt sie wie eine Art Debattierclub im Verhör-Kostüm – vielleicht eher einem modernen „Tatort“-TV-Krimi als einem Theaterabend entsprechend. Doch genau diesem Problem ist die Regisseurin Simone Thoma auf sehr geschickte Art aus dem Weg gegangen, indem sie eben keine schlichte Verhör-Situation eingerichtet hat, sondern eher eine phantasierte Szenerie, den Gesetzmäßigkeiten des Stücks immer wieder symbolhaft enthoben. Ein Hauch von Regietheater weht lebendig durch die well-made-play-Vorlage. Den weihnachtlichen Hintergrund nimmt Simone Thoma dabei sehr wörtlich: Statt in einem Verhörraum trifft man sich in einer Kirche (Bühne: Adriana Kocijan), die Verdächtige sitzt mal im feinen Oberschichts-Zwirn da, schiebt dann im Kostüm der Heiligen Maria einen Kinderwagen gen Altar (Kostüme: Heinke Stork) und windet sich zwischendurch, wie eine Besessene bei der Teufelsaustreibung, über den Boden. Dabei spielt Dagmar Geppert die Verdächtige mit der nötigen Strenge und – von den wenigen Ausreißern abgesehen –  äußerlich ruhig. Ob es Beherrschung, Kalkül oder Resignation sind, die Judith so kalt wirken lassen, bleibt offen. Etwas weniger verrätselt und mit gefasster Härte verkörpert Steffen Reuber den Thomas, eine von Beginn an deutlicher gezeichnete Figur. Obwohl sein genaues Amt nicht geklärt wird (ist er bei der Polizei oder beim Verfassungsschutz?), so gibt er doch fast bis zum Schluss den knallharten, mit allen rhetorischen Wassern der Verhörtechnik gewaschenen Bad Cop im Dienste des Guten. Dass er nackt im Weihwasserbecken badet und später die halb entkleidete Verdächtige auf unerträglich intime Weise untersucht, führt auf eindringliche Art vor Augen, welch selbstgefälliges Ausmaß die Ausübung staatlicher Macht in unsicheren Zeiten annehmen kann. Um die Szenen- und Kostümwechsel lückenlos zu gestalten, wurde für diese Inszenierung außerdem ein stummer Diener (Peter Kapusta) erfunden, dessen Funktion sich jenseits der praktischen Aspekte aber kaum erschließt. Manchmal hat die Bildsprache auch etwas Komödiantisches – beispielsweise, als Thomas für ein gemeinsames Abendmahl im wörtlichen Sinne das Brot bricht: Um kurz vor zwölf speisen beide noch Baguette, Wein und – ganz weihnachtlich – eine gefüllte Pastete. So gerät die christliche Symbolik bisweilen etwas tropfschwer, führt uns aber überwiegend vor Augen, wie schnell der Glaube an das Gute oder Richtige in Fanatismus ausarten kann.

Allerdings lässt sich nicht ganz ausblenden: Obwohl Simone Thoma die Schwäche des Stücks entkräftet und ihm mit inszenatorischem Selbstbewusstsein und reichlich Kreativität entgegentritt, nimmt sie ihm auf anderer Ebene damit auch die Spannung. Denn eben gerade die zeitliche Bedrängnis angesichts der stets offenen Frage, was um Mitternacht geschieht, gibt Kehlmanns Stück natürlich einen gewissen dramatischen Thrill – nicht umsonst ist es „ein Stück für zwei Schauspieler und eine Uhr“. Zwar steht eine überdimensional große Sanduhr auf der Bühne, die zum Schluss durchgelaufen ist, doch getaktet durch den Wettlauf mit der Zeit ist diese Inszenierung nicht. Stattdessen immer wieder lange Sprechpausen, egal, wie oft Thomas betont, dass die Zeit knapp wird. Es könnten auch Tage und Wochen vergehen, hier geht es darum, die existenziellen Fragen des Stückes herauszuschälen: Welcher Zweck heiligt welche Mittel? Wer ist hier der Verbrecher und wer unschuldig? Wie weit ist es noch her mit unserer christlichen Nächstenliebe? In ihrer bildlich aufgeladenen, aber konsequenten Lesart regt die Inszenierung dazu an, (auch jenseits von Weihnachten) über diese Fragen nachzudenken.