Szene aus "Nimmerland" in Hamburg

Mit dem Leben spielen

Brigitte Dethier, Till Wiebel und Ensemble: Nimmerland

Theater:Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere:02.12.2023 (UA)Vorlage:Peter PanAutor(in) der Vorlage:J. M. BarrieRegie:Brigitte DethierMusikalische Leitung:Nico-Alexander WilhelmKomponist(in):Lisa Wilhelm

Regisseurin Brigitte Dethier setzt sich am Jungen Schauspielhaus Hamburg  in einer Stückentwicklung mit aufwühlenden Rückblicken und Zukunft gestaltenden Träumen von Kindern auseinander. In „Nimmerland“ sollen sie sich vom falschen Helden Peter Pan abwenden und entdecken, dass auch das Erwachsenwerden mit seiner Fülle an Veränderungen die Menschen fliegen lassen kann.

Nimmerland steht als Utopie der Infantilen nicht so hoch im Kurs von Wissenschaft, Pädagogik und Kunst, die einen selbstbewussten Umgang mit dem Größer- und Älterwerden ermöglichen wollen. Die also verhindern möchten, dass Kinder gedächtnisfaul und planlos heranwachsen, weil ihr Geist weder in die Vergangenheit noch in die Zukunft reicht. In „Nimmerland“, der Stückentwicklung von Brigitte Dethier und dem Ensemble für ein Publikum „8+“ am Jungen Schauspielhaus Hamburg, ist die Trauminsel des Schriftstellers J. M. Barrie vor allem ein Sehnsuchtsort der Freiheit. Und des Ausprobierens eigener Fantasien.

Das wird auf der Bühne vorgelebt: Nimmerland ist das Theater – ein Ort der spielerischen Identitätsverhandlung. Und so feiert Dethier sowohl die Möglichkeiten der Bühnenkunst wie die Versuche der ähnlich verwundbar offenen Kinder, mit unsicher lauten und fragend leisen Sehnsüchten sowie dem Drang zur Selbstentfaltung umzugehen.

 

Drei Personen bunten, lustigen Monster-Kostümen laufen über die Bühne.

Die Hamburger Inszenierung von „NImmerland“ spielt mit den Möglichkeiten des Theaterraums, in dem alles möglich ist. Foto: Sinje Hasheider

 

Theater als magischer Ort

Um Aufmerksamkeit zu generieren, lässt die Regie anfangs behaupten, niemand sei für die angesagte Aufführung in Hamburg vorbereitet. Aus der Verlegenheit heraus erklärt der Abendspielleiter (Hermann Book), was Arbeitslicht und Black bedeutet. Später ist zu sehen, wie sekundenschnell Lichtstimmungen gewechselt werden können. Die verdutzte Bühnenmeisterin (Alicja Rosinski) greift zur Kasperle-Theater-Animation des Publikums („Was macht ihr denn hier?“) und berichtet von ihrer Hubbühne herab von den Arbeitsabläufen vor der Premiere. Eine Schauspielerin (Jara Bihler) plaudert aus dem Nähkästchen. Mit PR-Phrasen für Theatermacher versucht der Intendant (Nico-Alexander Wilhelm) die Situation zu meistern. Die Feuerwehr (Christine Ochsenhofer) will derweil mögliche Brandherde besprechen, bemängelt einen herabstürzenden Scheinwerfer und einen dampfenden Mülleimer. Löschend schwebt poesie-willig ein wasserblaues Tuch herab und aus dem Feuerlöscher schießt Glitzerflitter.

Deren Folgen eine Reinigungskraft (Severin Mauchle) zu beseitigen hat – und die Gunst des Auftritts nutzt, strahlend von seiner Begeisterung für die Peter-Pan-Geschichte zu erzählen: Fee Tinkerbell lässt er mit einem Gummihandschuh lebendig werden und verkörpert alle Nimmerland-Kinder mal eben schnell selbst. Während ein Engel mit Flügeln in Ohrengestalt (Jazz-Schlagzeugerin Lisa Wilhelm) an Perkussionsinstrumenten sowie Klaviersaiten das Geschehen rhythmisch befeuert und klanglich untermalt. So haben wir im Hamburger Theater schon mal eine Geschichte, Theatermusik, ein Theaterzauber kreierendes Ensemble und eine zunehmend Nimmerland imaginierende Bühne, wo alles möglich scheint und vieles möglich wird.

Bezauberndes Theater im Advent

Und zwar eindrucksvoller als bei vielen aktuellen Familienstücken zur Adventszeit, da mit humorvollen Kostüm- und Requisiteneinsatz sowie vielfältig aufbereiteten Handlungsschnipseln vor allem das Vorstellungsvermögen des Publikums gekitzelt wird, nicht die Sinne übersättigt werden. Eine wunderbare Einführung in die Magie der Bühnenkunst ist zu erleben – und die Lust, dabei die Lebenswirklichkeit der Besucher zu spiegeln. Das Ensemble bringt Bedürnisse junger Menschen zu Gehör – etwa: machen zu können, was und mit wem man will und sich dabei keine Sorgen machen müssen, wie andere darüber denken. In einem solch spaßprallen Nimmerland, heißt es, sollte nichts peinlich und das Leben einsamkeits- und angstfrei sein und immer genug Aufmerksamkeit für jeden aufgebracht werden.

Eine Person mit langen, glatten Haaren und weißem Jumpsuit sitzt auf bunten Matten mit der Nachbildung eines riesigen Ohres auf dem Rücken.

Das Hamburger Jugendstück will die Kraft geben, mit schlechten Erfahrungen umzugehen. Foto: Sinje Hasheider

 

Fliegen lernen in Hamburg

Aus solchen Haltungen und Handlungen formt Dethier ein Leitmotiv: Man müsse nicht eskapistisch auf Kindlichkeit beharren, um wie Peter Pan fliegen zu können. Es brauche nur einen guten Gedanken, der einen zum Fliegen bringt. Dabei wird vielleicht irgendetwas tief im Inneren berührt, sodass ein inspirierender Puzzle-Stein zur Ich-Entfaltung gefunden ist.

In diesem Flirren zwischen Abschied und Ankunft bestärkt die Aufführung den Mut, den nächsten Schritt ins Unbekannte zu wagen. Mehrfach wird dabei auch die Ambivalenz von Erinnerungen betont. Nicht nur beglückend anspornend, auch erschreckend können sie sein. Wie das furchtbare Gefühl beim ersten Sprung vom 5-Meter-Turm oder die Trauer. Oder als Mutter das Lieblingskuscheltier verbrannt hat und Omas Hund starb. Es wird angedeutet, dass man solche Erlebnisse vergessen oder verdrängen könne, man sich aber auch weiterhin daran erinnern kann, um daraus zu lernen, mit Enttäuschungen umzugehen. Mit solch sensiblem Eingehen auf kindliche Vorstellungen überzeugt die Inszenierung genauso wie mit der liebevollen Präsentation von Theater als Raum zum Experimentieren mit Lebensentwürfen, um ein Gefühl des Ausgeliefertseins in eines der Autonomie zu überführen. So ist „Nimmerland“ in Hamburg eine ästhetisch bezaubernde und auch bezaubernd schlaue Produktion.