Szene aus Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert

Gegen das kapitalistische Theater

Sivan Ben Yishai: Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert

Theater:Schauspiel Hannover, Premiere:13.01.2024 (UA)Vorlage:Nora oder Ein PuppenheimAutor(in) der Vorlage:Henrik IbsenRegie:Marie BuesKomponist(in):Christine Hasler

Die Dramatikerin Sivan Ben Yishai hat sich den Theaterklassiker „Nora“ von Ibsen am Schauspiel Hannover vorgenommen. In ihrer Version „Wie man ein Herrenhaus kompostiert“ gibt sie den kleineren Figuren eine Stimme und stellt auch das System des Theaters in Frage.

Noras Emanzipation von Frau und Familie hat ihren Preis. Den freilich nicht sie zahlt: Es braucht dazu eine personelle Infrastruktur aus allerhand Dienstleistenden vom Paketträger bis zur Kinderfrau, Zuarbeiterinnen und Zuarbeiter also, die Nora Muße und Gelegenheit verschaffen, jenen kühnen Entschluss zu fassen, für den sie in die Weltliteratur und ins Kernrepertoire der Theater eingegangen ist. Bei Ibsen fungieren solche Angehörigen „unterbürgerlicher“ Schichten mehrheitlich als pittoreske Details oder gar bloße Stichwortgeber. Gegenwärtig werden sie meist aus dem Stück herausgestrichen.

Ibsens Nebenfiguren im Spotlight

Sivan Ben Yishai findet sich damit in ihrer Überschreibung „Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert“ am Schauspiel Hannover nicht ab. Sie gibt Dienstmann und Hausmädchen samt Kinderfrau Anne-Marie Persönlichkeit und Stimme. So wächst denn der Dienstmann (Ibsen gönnt ihm lediglich vier Silben: „fünfzig Öre“) zur Zentralfigur des ersten von drei Teilen auf. Doch weniger als Angehöriger des Proletariats, vielmehr vor allem als Schauspieler in von Knebelverträgen und Kurzfristengagements erzwungenen prekären Verhältnissen. Denn Ben Yishai begnügt sich nicht mit besitzbürgerlichen Privatsituationen. Ihre klassenkämpferische Attacke zielt darüber hinaus in den öffentlichen Raum des Theaters. Mag es glauben, sich ständig dagegen zu sperren, Theater reproduziert laut Ben Yishai kapitalistische Machenschaften.

Der Mittelteil des Stücks widmet sich Anne-Marie – der Kinderfrau, die sich gezwungen sah, den eigenen Nachwuchs zu verlassen – um Mittel zu seiner Subsistenz zu beschaffen. Ben Yishai konfrontiert solche Not mit der ebenso sittenstrengen wie erfolgreichen Weigerung der einst für die deutsche Erstaufführung in der Titelrolle besetzten Spielerin, zum Mindesten auf der Bühne Gatten und Kinder zu verlassen. Bürgerliche Moral fußt halt auf üppigem Finanzpolster. Dieses aber kam Noras Freundin Christine im Witwenstand abhanden. Ibsen zeigt sie im Ringen um ihre bürgerliche Existenz. Ben Yishai hingegen lässt sie die Aussichtslosigkeit des Unterfangens begreifen und sich mit Proletariat und Prekären solidarisieren. Denn eines steht für sie alle fest: Nora wird nicht helfen. Weder Ibsens Titelfigur noch ihre von Ben Yishai fingierte Spielerin. Letztere hält im schönsten Einvernehmen mit ihrem den Helmer gebenden Ehemann und Kollegen die Konkurrenz nieder.

Fünf Personen stehen mit Rücken zum Publikum vor einem Gerüst aus roten Stangen und Leuchröhren.

Katja Haß und Sophie Klenk-Wulff haben von der noblen Garderobe und dem Herrenhaus nur noch Teile übriggelassen. Foto: Kerstin Schomburg

 

Die kapitalistische Herrschaft des Theaters

Nicht so sehr dramaturgisch starke Seile verknüpfen das alles, Zusammenhalt stiftet vornehmlich die Kraft der Sprache. Gleichermaßen trifft dies auf die chorischen Passagen zu wie auf die rhetorisch brillanten, böse-charmanten und menschenverachtenden Sprecharien, in denen Helmer und ihm voran Nora sich zu Virtuosen des Kapitalismus aufwerfen.

Bei alledem entfaltet das Herrenhaus – obschon als Untertitel firmierend, im Sprechtext immer wieder erwähnt und als Bühnenbild präsent – nur geringen Sog. Schon klar, dass im adretten Puppenheim auch weibliches Bürgertum Herrschaft ausübt. Der faszinierende Gedanke freilich, es zum Einsturz zu bringen, auf dass aus seinen Trümmern und Verwesung das neue Leben in einer klassenlosen und von den Zwängen des Kapitalismus freien Gesellschaft aufkeime, bleibt blass. Ben Yishai sinnt auf finale Utopie. Und springt zu kurz.

Revue mit Agitprop-Charakter in Hannover

Regisseurin Marie Bues nähert sich einer Sozial- und Politrevue. Chorische Partien, Schauspielerarien, die von Christine ins Spiel gebrachte Prise Sentiment und Ben Yishais oft bärbeißige Pointen sprechen für diesen Ansatz. Das hat etwas vom Agitprop sozialistischer US-Musicals der 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts à la Marc Blitzstein. Katja Haß stellt ein knallrotes zunehmend dekonstruiertes Haus auf die Bühne, von dessen Außenwänden am Ende nur das Trägerskelett in den Bühnenhimmel ragt. Immerhin bleibt seine inwendige – simultan bürgerlicher Repräsentation und der Show dienende – Stiege erhalten. Sophie Klenk-Wulff steckt die Personnage in schwarze Monturen, die zwischen Showbizz und Reptil changieren. Für Nora und Helmer parodiert sie bürgerliche Mode.

Das Ensemble des Schauspiel Hannover zeigt sich aus einem Guss: Birte Leest und Cino Djavid brillieren als zynische, einzig ihr Selbst kennende Titelfigur und nonchalant-abgefeimter Helmer. Vereint erlangen Nellie Fischer-Benson, Tabitha Frehner, Torben Kessler, Irene Kugler und Sebastian Nakajew proletarisch-klassenkämpferisches Bewusstsein. Der Utopie zugewandt entledigt Florence Adjidomes Christine sich bürgerlicher Werthaltungen.