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Romeos letzter Traum

Riccardo Zandonai: Giulietta e Romeo

Theater:Staatstheater Braunschweig, Premiere:21.04.2017Autor(in) der Vorlage:William ShakespeareRegie:Philipp KochheimMusikalische Leitung:Florian Ludwig

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit war Riccardo Zandonais sonst fast nie gespielte Romeo-und-Julia-Oper auf der Bühne zu sehen: Auf Erfurt folgt jetzt Branschweig.

Schon bei den ersten Tönen von Riccardo Zandonais Oper „Giulietta e Romeo“ am Staatstheater Braunschweig ahnte man, dass es an diesem Premierenabend musikalisch etwas anders zugehen könnte als knapp zwei Wochen zuvor am Theater Erfurt. Und zwar in zweierlei Hinsicht. Das moderne und sehr schicke Theater in Erfurt hat einfach die bessere Akustik. Da musste man in Braunschweig Abstriche machen, zumal die „Banda“, nämlich die Wirtshausmusik in ersten Akt, offenbar aus Lautsprechern kam. Dafür aber hörte man in Braunschweig die vielschichtigere musikalische Interpretation. Das zu erleben war ausgesprochen spannend und nebenbei auch durchaus lehrreich.

In Erfurt, wo der griechische Dirigent Myron Michailidis Zandonais um 1920 herum entstandene, ihre Puccini-Nachfolge nie verleugnende Oper fast zu sehr auf schwelgenden, gut abgemischten und schwungvoll vorgetragenen Schönklang hin ausgelegt hatte, war das Klangergebnis tatsächlich nahe am Vorbild geblieben. In Braunschweig dagegen gab jetzt Florian Ludwig, im Hauptberuf noch bis Sommer des Jahres GMD des von Sparzwängen schwer gebeutelten Theaters Hagen, den Klangschichten und Stimmen viel markantere, schärfere Konturen und mehr rhythmischen Biss. Und siehe da: Auf einmal hatte Zandonais Eklektizismus eine überraschende Vielschichtigkeit, ja Disparatheit. Nicht nur Puccini oder der späte Verdi (letzterer vor allem bei den Gesangspartien) kamen einem in den Sinn, sondern auch Strawinskij oder ein Hauch von Hindemith.

So widerfuhr Zandonai, dem fast Vergessenen, und seiner noch viel vergesseneren Shakespeare-Oper durch die glückliche Konstellation, dass sich gleich zwei Häuser in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft an die Ausgrabung dieser Rarität gemacht hatten, doch noch die Ehre, die sie verdienen. Was man in Bezug auf die Inszenierungen allerdings nicht ganz so uneingeschränkt sagen kann. Das liegt möglicherweise aber auch daran, dass sich Zandonais Librettisten im Grunde kaum an Shakespeare orientieren, sondern dessen Dramenhandlung mit möglichst effektvollen Szenen aus eigener Phantasie gleichsam übermalen. Dass sie sich dabei groß um dramaturgische Zusammenhänge scheren, kann man ihnen nicht nachsagen, sie verfahren nach dem Motto: Der Zuschauer kennt’s ja eh. Eigentlich ist das ja ein sehr modernes, geradezu postmodernes Verfahren, auf das die beiden Regisseure aber mit ziemlich konventionellen Regietheater-Mitteln reagieren.

In Erfurt hatte Guy Montavon die Geschichte in ein Internat zur Zeit der Komposition verlegt, wo sie aber, da die Regie aus dieser Vorgabe nichts macht, am Ende auch nicht besser funktionierte als in Verona. In Braunschweig geht Philipp Kochheim da doch geschickter zu Werke. Auch er zwar greift zum Mittel der historischen und sozialen Travestie, wenn er aus den Montecchi und den Capuleti Soldaten verfeindeter Heere macht und das Ganze in einen düsteren Schützengraben des Ersten Weltkriegs verlegt – in die Zeit also, als Zandonai gerade begann, sich für den Stoff zu interessieren. Und wenn er dann Romeo am Ende des ersten Bildes zum Opfer eines krachenden Granatenangriffs macht und die ganze Liebesgeschichte als seinen letzten Traum deutet, dem die Krankenschwester Julia mit einer Morphiumspritze den richtigen Drive gibt – dann ist ja auch das ein Mittel, das man schon zigmal auf der Bühne gesehen hat. Allerdings: Hier passt es! Denn durch die zerrissene Traumlogik bekommt die zusammenhanglose Handlung einen neuen Sinn.

Und man muss auch sagen, dass Kochheim, sein Bühnenbildner Thomas Gruber und die Kostümbildnerin Mathilde Grebot mit ihrer Setzung weit konsequenter und auch phantasievoller umgehen als Montavon mit der seinen. Grubers Drehbühne bietet immer neue pittoreske Ansichten. Auch wenn man nicht immer weiß, warum es gerade so aussehen muss, warum beispielsweise die Liebesszenen in einer Bibliothek spielen müssen, in die offenbar ein Flugzeug gekracht ist – auf jeden Fall sieht es gut aus, weil die drei das Surreale des Träumens für wunderbare phantasmagorische Szenerien nutzen. Nur an der Personenführung kleben noch viele Operngesten-Schablonen, aber sie ist zumindest sehr lebendig.

Bei den Sängern bewegen sich beide Häuser auf Augenhöhe. Während in Erfurt die sehr dramatische litauische Sopranistin Jamanté Slezaité eher eine Giulia bot, war in Braunschweig die lyrische Tanja Christine Kuhn tatsächlich eine Giulietta – was sehr zu Herzen ging, aber auch Defizite mit sich brachte, weil die in Heidelberg geborene Sopranistin mit der geschmeidigen Silberstimme zwar eine beachtliche Tragkraft aufbot, dabei aber immer mal wieder auch ganz schön ins Flackern geriet. Der Belgier Mickail Spadaccini dagegen, der erst 14 Tage vor der Premiere für den erkrankten  Michael Pflumm eingesprungen war, mobilisierte für seinen Romeo die ganze Herrlichkeit und Stilsicherheit eines italienischen Spinto-Tenors, was bestens funktionierte, sich aber in all seiner Vitalität und Grandezza nicht so ganz zum Regiekonzept fügen wollte – da hätte Eduard Martynyuk, der dunklere, gebrochenere Erfurter Romeo, vielleicht sogar besser gepasst. Beachtlich war auch Raymond Ayers’ markant konturierter Tebaldo, wobei er allerdings eine Untugend am weitesten trieb, der gelegentlich auch die anderen Sänger frönten: die Neigung zum Brüllen. Auch die meisten Nebenrollen waren gut besetzt, beispielsweise der sehr profilierte Cantatore von Michael Ha oder die ziemlich kraftstrotzende Isabella von Ekaterina Kudryavtseva.

Offen blieb nach beiden Inszenierungen die Frage, ob die so seltsam irrlichternde, um keinen Handlungszusammenhang sich kümmernde, den „Romeo und Julia“-Mythos lediglich als Folie für ihre eigene Effektverliebtheit nutzende Oper wirklich nach so konkreten Verortungen verlangt, wie sie in Erfurt (Internat) und Braunschweig (Schützengraben und Lazarett) zu sehen waren. Spielt diese Oper nicht eigentlich nur noch mit den Klischees von tragischer Liebe, die an sich selbst nicht mehr glauben? Mehr noch: Wirken diese Klischees nicht sogar wie ein inszenierter Fake, der an eine alte Geschichte appelliert, die jeder kennt, über die aber keiner mehr nachdenkt? Es wäre vielleicht spannend und sicherlich sehr nah an unserer Gegenwart mit all ihren medialen Gefühls- und Identitätssurrogaten, sich anhand dieses Werke noch mal auf diese Spur zu begeben. Die Musik lohnt es allemal.