Sibylle Canonica und Ensemble in „Lapidarium“

Wider-Schrift

Rainald Goetz: Lapidarium

Theater:Residenztheater, Premiere:10.10.2025 (UA)Regie:Elsa-Sophie Jach

Am Münchner Residenztheater hatte mit „Lapidarium“ von Rainald Goetz der letzte Teil der gleichnamigen Trilogie Premiere. Im Stück geht es um das Ende des Lebens und das Schreiben darüber. Elsa-Sophie Jach bringt das angemessen nüchtern auf die Bühne.

Der Tod ist ein zentrales Thema des Theaters. Auf der Bühne kann – im schönsten Widerspruch – der durch Maske oder einfach sein Spiel veränderte Mensch Verstorbene zum Leben bringen. Die Geisterbeschwörung steht am Anfang des Theaters. Und sie steht im Zentrum von Rainald Goetz‘ neuestem Stück „Lapidarium“ – was eigentlich Steinsammlung bedeutet und schlicht für Friedhof stehen kann. Das nun am Münchner Residenztheater uraufgeführte „Ichstück“, erzählt auch vom Tod, ist vielmehr die dichterische Auseinandersetzung mit Toten: Über 250 Menschen, überwiegend Männer, aus Geschichte, Literatur und Kunstszene erwähnt der Monolog. Im Kern ist „Lapidarium“ ein dichterisches Requiem des Dichters Rainald Goetz zu Lebzeiten, ein öffentliches Ringen mit dem mehr oder weniger nahenden Tod, auch der Möglichkeit des Selbstodes.

Tote Bekannte

Goetz beschreibt das Sterben seines Mentors Michael Rutschky, den folgenden Freitod von dessen Freund Kurt Scheel, bezieht sich immer wieder auf Wolfgang Herrndorfs Suizid. Zunächst aber ist das Stück ein Wandeln auf dem Boulevard des München der 1980er Jahre. In einer Verknüpfung aus Biografischem und Fiktionalem trifft der gebürtige Münchner Goetz etwa Helmut Dietl und Franz Xaver Kroetz, plant mit ihnen eine Wiederauferstehung des Baby Schimmerlos aus der Kult-TV-Serie (des öffentlich-rechtlichen! Fernsehens) „Kir Royal“. Auf einem oberbayerischen Ufersteg begegnet der Erzähler wohl dem Tod alias einem jungen Aufnahmeleiter vom Film, hört geisterhafte „Stimmen hinter mir“, fragt sich was „gut sterben“ denn heißen kann.

Hausregisseurin Elsa-Sophie Jach, der zuletzt mit „Romeo und Julia“ am Residenztheater ein Coup gelang, hat weder diese Zeit erlebt noch ist sie biografisch mit der Münchner Künstlerbohème vertraut. Sie versammelt in der Bühne von Aleksandra Pavlović und in den Kostümen von Johanna Stenzel das sechsköpfige Ensemble eher in einem Versuchsraum. In meist einheitlichen blauen Freizeithosen bewegen sie sich vor einer großen blauen Wand und agieren hin und wieder auch per Live-Video (Niels Voges) aus dem Hintergrund. In Herbert Achternbuschs Atelier verspritzen die Männer (Steffen Höld, Vincent zur Linden, Nicola Matroberardino und Steven Scharf) Bierschaum auf der Wand, der von Pia Händler mit weißer Farbe überstrichen wird.

Pia Händler und malende Männer

Pia Händler und malende Männer. Foto: Sandra Then

Sibylle Canonica eröffnete das Gedenken-Gedanken-Spiel vor einer Lamellen-Wand. Nicht nur altersgemäß kommt die ehemalige Kammerspiel-Darstellerin dem Dichter Rainald Goetz am nächsten. Während die anderen fünf im Chor oder in einmaligen Soli agieren, übernimmt Canonica am ehesten eine Rolle: Die des verwirrten Greises Geiser aus Max Frischs Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“, der das Weltwissen auf Klebezetteln festzuhalten versucht. Am Ende trifft sie auf einem Steinuntergrund auf den jüngsten im Bunde, Vincent zur Linden, nachdem der sich als Ich-Figur im Kunstregen erschießen wollte – wobei sich sein Papierkleid nach und nach in Nichts auflöste.

Bilder und Sprache

Die Uraufführungsinszenierung funktioniert stark über Bilder, die immer wieder eindrücklich gelingen. Die Fülle des Textes kann so – und durch zeitlich-irdische Beschränkungen der Bühne – allerdings nur angedeutet werden. Der Chor agiert souverän, teilweise schaffen die Akteur:innen in ihren Soli auch das Ringen des Autors mit den eigenen Widersprüchlichkeiten auszuspielen. Der implizite und in den Partien um Döpfner versus Stuckrad-Barre thematisierte Machismo der beschriebenen Männerwelt von früher wird in Pia Händlers Beschreibung des „Lustspektakels“ intensiv und zugleich entspannt ironisch gebrochen. Steven Scharf gelingt das Auf und Ab des Ichs grandios auf kleinem Raum auszuspielen. Des Dichters Ringen mit seinem Leben und dem, was er daraus auf dem Papier geschrieben hat – und nun schreibt, verwandelt sich also weitgehend in diesen gut zwei Stunden in Bühnenleben.

Gleichzeitig verlangt die Inszenierung dem Publikum eine große Bereitschaft ab, mitsurfen zu wollen auf den verschlungenen Gedankenwegen des Rainald Goetz. Und da bleibt die Inszenierung recht abstrakt. Abgesehen von der Live-Tuba-Begleitung durch Barbara Kolb und Bernadette Wolf sind die bayerischen Komponenten reduziert. Sofern sie im Text auftauchen, führen sie zu dankbarem Wiedererkennen im Parkett. Die sechs Ichs sind ein großes Wir, mit einzelnen Ich-Momenten, aber keiner unmittelbar persönlichen Ausstrahlung.

„Lapidarium“ ist der Name des letzten Teils einer Trilogie, die mit „Reich des Todes“ begann. Hier sezierte Goetz erschütternd die mehr denn je gültige Selbstzerstörung der US-Demokratie nach dem 11. September. In „Baracke“ verband er dann sehr eigenwillig das Konzept Familie mit den Morden des NSU. Nun offenbart sich Goetz in seinem eigenen Requiem. Oder er macht einfach ein komplexes Angebot für Inszenierungen der großen Widersprüche zwischen Leben, Tod und künstlerischer Bearbeitung der beiden Stationen unserer Ichs. Die Münchner Uraufführung ist dafür ein würdiger Anfang.