Reise in eine körperlose Zukunft

Tim Plegge: #Mensch

Theater:Hessisches Staatsballett, Premiere:14.06.2019

Es beginnt ganz friedlich. Die Bühne ist leer, bis auf das Gerüst eines Holzwürfels. Darin eine einzige Tänzerin, rot gekleidet. Sie scheint verlassen in der Weite des großen, dunklen Raumes. Das Geräusch von Wellenrauschen setzt ein. Die Tänzerin streckt ihre Arme aus, beugt ihren Oberkörper zur Seite. Ihre Bewegungen sind rund, ausladend, weich. Dann betreten zwei weitere Tänzer die Bühne. Sie laufen ganz nah beieinander, Gesicht an Gesicht, jedoch ohne sich zu berühren. Sie wirken roboterhaft, wie fremdgesteuert. Immer mehr Tänzer folgen ihnen. Sie tragen Anzüge aus durchsichtigem Plastik, die wie eine Art futuristische Schutzkleidung wirken (Kostüm: Linnan Zhang). Die Kapuzen ins Gesicht gezogen, formieren sie sich am hinteren Ende der Bühne in Reihen. Wie eine Armee marschieren sie im Gleichschritt nach vorne in Richtung Publikum. Unaufhaltsam, bedrohlich – was kommt da auf uns zu?

Die Frage nach der Zukunft (die da auf uns zukommt) haben sich die 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer von „#Mensch“, dem zweiten Partizipationsprojekt des Hessischen Staatsballetts, gestellt. Nach „Odyssee_21“, das den Blick zurück in die Vergangenheit auf das Thema der Herkunft richtete, geht die Reise nun in die Zukunft. Dabei treffen Jung und Alt aufeinander, die Altersspanne der Tanzbegeisterten aus dem Rhein-Main-Gebiet liegt zwischen 14 und 74 Jahren. Zwischen den Generationen mischen sich die Perspektiven – da sind die, die einen Großteil ihrer Zukunft vor sich haben, und die, die in die Zeit, die vor ihnen liegt, mit einem großen Erfahrungsschatz gehen werden. Knapp ein Jahr näherten sich die 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter der Leitung von Tim Plegge und den beiden Tanzvermittlerinnen Nira Priore Nouak und Sibylle Magel der Zukunft an, entwickelten Entwürfe und Ideen, die sie dann in Bewegungen übersetzten. So kommt nun am Staatstheater Darmstadt eine Choreographie auf die Bühne, die nicht nur mit einem großen Einfallsreichtum überzeugt, sondern vor allem auch mit einer präzisen Umsetzung, bei der die vielen Details wunderbar aufeinander abgestimmt sind.

Der Körper der Zukunft, wird er noch eine Rolle spielen in der virtuellen Welt? Nachdem zwei Tänzer komplizierte Codes aus Nullen und Einsen zum Publikum sprechen, fahren weitere Tänzer mit kleinen Lampen ihre Hautoberfläche ab. Fast so wie Scanner, die im Supermarkt die Codes von Produkten lesen. In der Dunkelheit richten sich die Scheinwerfer auf ihre Körper, mit denen sie nichts anzufangen wissen, die seltsam fremd erscheinen. Wie ein Rätsel, das es zu lösen gilt. Die Vergänglichkeit dieser Körper, das Verstreichen von Lebenszeit wird in einem mehrsprachigen Monolog thematisiert. Er versucht auf berührende Art und Weise, die verbleibende Zeit eines Menschen zu quantifizieren, irgendwie fassbar und damit begreifbar zu machen. Wie im Zeitraffer bewegen sich die Tänzer zu rhythmischer Musik. Erkennbar sind Alltagsbewegungen wie das Händewaschen oder Ankleiden. Dann sinkt der erste erschöpft zusammen, wird von einem Mittänzer wiederaufgerichtet. Das Spiel beginnt von Neuem, bis schließlich alle in sich zusammensinken.

Es sind die stärksten Momente des Abends, in denen alle Tänzer auf der Bühne gemeinsam miteinander agieren. Die Wucht der Masse ist beeindruckend! Die einzelnen Teile der Choreographie stehen niemals ungeordnet nebeneinander, sondern stets geht eine Bewegung fließend in die nächste über, die einzelnen Gedankenfiguren entwachsen jeweils aus der vorherigen. Dabei gibt es durchaus humorvolle Anteile. Etwa wenn die Tänzer zu dem Udo Jürgens-Schlager „Immer wieder geht die Sonne auf“ entgegen der Drehrichtung der Bühne um ihr Leben rennen. Ganz so, als könnten sie den Lauf der Zeit dadurch aufhalten.

Ernste und kritische Töne werden in einer Art Textcollage angeschlagen, in der die Tänzer ihre Zukunftsentwürfe präsentieren. Da ist von Geräten, die die Atemluft filtern, von Ersatzorganen aus 3D-Druckern die Rede. Von autofreien Innenstädten, aber auch davon, dass sich gar nichts ändert. Da finden vor allem die verschiedenen Perspektiven und Sichtweisen auf das, was vor uns liegt, ihre Berechtigung, von der unerreichbaren bis zur vollkommenen Gleichberechtigung der Geschlechter. Und wenn die Tänzer am Ende ihre durchsichtigen Anzüge abstreifen, so als würden sie sich häuten, und diese bergeweise den Bühnenboden bedecken, drängt sich die bohrende Frage auf, ob es das ist, was die Menschheit hinterlassen wird: jede Menge Plastik. Spätestens dann wird deutlich, wie weit die Zukunft in der Gegenwart angekommen zu sein scheint. Wie körperlos diese Zukunft auch sein mag – der Darmstädter Tanzabend feiert den Körper als starkes und unverwechselbares Ausdrucksmittel.