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Raststättenmörder, Fluchthelfer und Trapezkünstler

Alfred Andersch, Philipp Löhle: Fahrerflucht / Fluchtfahrer

Theater:Schauspiel Stuttgart, Premiere:18.12.2013 (UA)Regie:Dominic Friedel

In Stuttgart-Nord steht derzeit die Welt schief. Aus der Mitte der Bühne ragt ein umgekipptes Trapez, davor ein Mann (Robert Kuchenbuch), der seine Sünde in den Spiegel beichtet. 100 Euro hat dieser Tankwart erhalten, damit er als Zeuge die tödliche Fahrerflucht eines wohlhabenden Firmenpatriarchen (Horst Kotterba) geheim hält. Während der arme Schlucker mit seinem Gewissen hadert, wähnt sich der Täter dabei in skrupelloser Gleichgültigkeit, schaut von seinem Baden-Badener Schickeria-Balkon auf dem Trapez herab und übt sich in dandyhaften Überdruss gegenüber der langweiligen Welt der Schönen und Reichen.

Dass Alfred Anderschs Hörspiel „Fahrerflucht“ von 1957, noch geprägt vom Moralverfall des Krieges und den Selbstfindungsprozessen der jungen Bundesrepublik, vor allem die sozialen Missstände in den Blick nimmt, wird auch in der Uraufführung des Regisseurs Dominic Friedel deutlich. Wenn der Manager in selbstgenügsamem Habitus mit dem Fuß eine Spielzeuglimousine vor sich herschiebt, wird nicht nur dessen Dekadenz mehr als offenkundig, sondern verkommt auch der Tod eines Mädchens zur bloßen Posse. Während im ersten Teil der Inszenierung Anderschs Fassung in Nebel, blusigen Beiklängen und überhaupt trister Dunkelheit vorüberzieht, verspricht die Annäherung des talentierten Dramatikers Philipp Löhle an den Prätext in der zweiten Hälfte des Abends eine groteske Reaktualisierung des Stoffes. Das Trapez wird kurzerhand bis auf das Gerüst abmontiert, die Darsteller schlüpfen am Bühnenrand in flippige Outfits. Zwischen Feinrippenshirts, unpassenden Pullis und cooler Mucke wird der Zuschauer dem leibhaftigen „Problemviertel“ gewahr. Wie schon Löhles letzte Stücke zeugt auch „Fluchtfahrer“ von gescheiterten Ausbruchsträumen und verhinderten Lebensentwürfen. Nur durch die Slapsticks des Textes erscheint das Grauen kleinbürgerlicher Provenienz hier noch komisch: Für 500 Euro begeht der Taugenichts Robin (Paul Grill) einen Raststättenmord; vergeblich erhofft sich die naive C&A-Verkäuferin Theresa (Katharina Knap) die große Liebe mit dem spätpubertären Killer, der ermittelnde Kommissar hingegen unternimmt alles, um den Fall des eigenen Prestiges wegen in die Länge zu ziehen. Indem der Autor seine Figuren ihre Versionen der Geschichte selbst erzählen lässt, formuliert er zwar eine Hommage an das Medium Radio, kann der Inszenierung insgesamt aber nur wenig Schwung und Energie verleihen. „Fluchtfahrer/Fahrerflucht“ zeigt die menschliche Skrupellosigkeit als zeitloses Kontinuum, das sich in der Dauerschleife der unentwegten Erzählmanier jedoch nur wenig mit theatralischer Lebendigkeit ausfüllt.