Plümerant

Ruedi Häusermann: Gang zum Patentamt

Theater:Hebbel am Ufer 1, Premiere:22.09.2010

Womöglich haben ja der Schweizer Musik-Konstrukteur Ruedi Häusermann und der am Beginn des vorigen Jahrhunderts mäßig erfolgreiche Dichter und noch weniger bekannte Erfinder Paul Scheerbart schon vor bald zwanzig Jahren Freundschaft geschlossen, denn zum Aufgebot von Frank Castorfs erstem Jahr als Intendant an der Ostberliner Volksbühne gehörte bekanntlich Christoph Marthalers unvergleichlicher Abend mit dem kryptischen Titel „Murx den Europäer! Murx ihn, murx ihn, murx ihn ab!” Dieser Titel war bei Paul Scheerbart entliehen. Der Musiker Ruedi Häusermann war damals als Klarinettist auch eine Art Hausmeister in Anna Viebrocks Untergänger-Halle aus Volksbühnen-Holz und mit dem Werbe-Logo aus dem West-Berliner Flughafen Tempelhof: „Damit die Zeit nicht stehen bleibt!” Aus diesem Satz fielen immer wieder Buchstaben von der Wand, Häusermann stellte derweil die Heizungen nach und hielt die Öfen in Gang, aus denen altkommunistische Chöre klangen. Vorbei, vorüber… – vergessen? Nie.

Nun also dient der Sonderling Scheerbart als Anlass für eine von Häusermanns eigenen skurrilen Musik-und-Text-Partituren: „Gang zum Patentamt”, koproduziert vom Berliner Theaterkombinat Hebbel am Ufer und im Sommer kommenden Jahres Teil der Wiener Festwochen, wird zum Besuch in Scheerbarts Zehlendorfer Erfinder-Werkstatt. Zehn Damen und Herren, darunter einige Pianisten (neben anderen durchweg musikalisch begabten Menschen) sind abendfüllend damit beschäftigt, Scheerbarts Traum zu erfüllen: Eine Art Perpetuum mobile zu bauen, ein Gerät also, vorzugsweise zum Fahren, das neue Energie aus dem Verbrauch der vorhandenen generiert. Dazu benötigte Scheerbart eine beträchtliche Menge ineinander greifender Rad- und Seil-Systeme – und die werden nun zusammen gehämmert, -gebunden, -gesägt, ineinander geschraubt und für Scheerbart-Häusermanns Vision miteinander verkuppelt. Zum Schluss scheint tatsächlich eine dieser Automaten-Konstruktionen zu funktionieren – wirklich und wahrhaftig „ready-made” für den „Gang zum Patentamt”.

Die Top-Pointe übrigens lauert dann im Programm-Faltblatt: Bau-Anleitungen gibt’s kostenfrei im Internet: unter www.hartzivmoebel.de.

Einmal mehr erfindet Häusermann seinerseits mit und für Scheerbart jenes Zusammenspiel aus musikalischer und szenischer Komposition, die seine Arbeiten (ob in Wien oder Hannover, Zürich oder München) stets einzigartig und ohne Vergleich dastehen lässt. Vorderhand sinnfrei, aber merklich einem hochpräzisen Konstruktionsplan folgend, greifen Klang und Aktion ineinander. Und wie fast immer ist auch jeder und jede in Häusermanns Ensemble musik-solistisch tätig, von den Virtuosen an vielfach präparierten Klavieren über den Bass-Klarinettisten bis hin zur singenden Säge und vieltönig schwingenden Drähten. Fehlt nur noch das legendäre Teremin (ein Instrument, das Schallwellen im Raum durch Teilung moduliert) und die Hommage an die musique concréte der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts wäre komplett.

Der Charme von Häusermanns aufregenderen Werkstatt-Begehungen liegt dabei in der verspielten Heiterkeit; daneben gibt es Abende, die nichts als Rätsel sind – wie unlängst „Die Glocken von Innsbruck läuten den Sonntag ein“ in Wien, mit überwiegend finstrer Lyrik von Händl Klaus. Der „Gang zum Patentamt“ ist zum Verzweifeln komisch im Bemühen der Scheerbartianer, dessen phantastische Konstruktionen tatsächlich sichtbar werden zu lassen. Und sei es „das speichenlose Rad“ – davon hatte der Erfinder später vernünftigerweise Abstand genommen. Häusermanns Handwerk ist zudem das des Archivars vergessener und verborgener Künste; neulich in Hannover etwa kreierte er einen Wilhelm-Busch-Abend mit nachgezeichneten, tragbaren Mini- oder Paravent-Kulissen aus Papier, für echte Schauspieler davor. „Gang zum Patentamt” ist der herzlich heitere Ausflug in den Kopf eines Tüftlers, der (wie alle Visionäre) des Menschen Müh’ und Last erleichtern wollte – aber, so Scheerbart selbst: „Mir wird, wenn ich daran denke, schon etwas plümerant zu Mute.“ Genau: dies ist Häusermanns bislang plümerantester Phantasten-Workshop.