"Exodos" von Sasha Waltz bei der Ruhrtriennale

Pausenloses Drängen

Sasha Waltz: Exodos

Theater:Ruhrtriennale/Jahrhunderthalle Bochum, Premiere:15.09.2018

Sasha Waltz
Jahrhunderthalle Bochum
Ruhrtriennale
Radialsystem
Exodus
Sasha Waltz & Guests
Melissa Korbmacher

„Hidden“, „Here“, „Help“ – einzelne Worte, die auf herumliegende Zettel oder mit Kreide auf den Boden der Jahrhunderthalle Bochum geschrieben worden sind, daneben eine Frage, die sich durch das ganze Stück zieht: „How do you feel when you are left alone?“

Eingehüllt in dichten Nebel, lassen sich in der riesigen Halle nur schemenhafte Silhouetten erahnen. Auf der linken Seite stehen einzelne Tänzer wie skurrile Ausstellungsstücke bewegungslos in engen Plexiglaskästen, rechts wird ein Tänzer immer wieder an einem Seilzug in die Luft gehoben, dazwischen bewegen sich einzelne Mitglieder der Compagnie durch das Publikum und suchen den Blickkontakt. In Sasha Waltz‘ Tanzperformance „Exodos“, die sie anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Compagnie Sasha Waltz & Guests entwickelt hat und die bereits Ende August im Berliner Radialsystem Uraufführung feierte, werden die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum aufgehoben, das Publikum bewegt sich frei durch den Raum zwischen den verstreuten Schauplätzen der Performance. Dabei ist es fast unmöglich, alles auf einmal wahrzunehmen, die Konstellationen verändern sich ständig und bieten Nährboden für Assoziationen.

Immer wieder stellt Sasha Waltz dabei konkrete Szenen neben abstrakte Bilder, die viel Raum für eigene Interpretationen lassen: Etwa ein Mann, der eine blicklos zur Decke starrende Frau auf dem Rücken trägt. Genau diesen Wechsel vollzieht auch die Musik, eine Neukomposition des „Soundwalk Collective“, die Alltagsgeräusche mit Elektrobeats und Ausschnitten klassischer Musikstücke wie Sentas Ballade aus Wagners „Der fliegende Holländer“ oder Gustav Mahlers sechster Sinfonie verknüpft. Flugzeuglärm, Sirenen, Vogelgezwitscher bleiben für sich unkonkret und ergeben erst mit der Performance der Tänzer ein sinnhaftes Ganzes. Alle diese Bilder haben etwas gemeinsam: ein ständiges Drängen, die Suche nach Fluchtmöglichkeiten. Sasha Waltz deutet diese Auswege, abgeleitet vom titelgebenden neugriechischen Exodos, auf verschiedene Weise: Flucht vor Krieg und Katastrophen, vor dem eigenen Alltag, von der Bühne.

Düstere und helle Momente gehen direkt ineinander über: Eine für Freiheit und Liebe protestierende Menge wird im Nu zu einem wütenden Mob. Ein Tänzer wälzt sich gefesselt auf dem Boden, weitere Compagniemitglieder erscheinen – und zücken ihre Handys. Gerade diese schmerzlich aktuellen Momente wirken im zweiten Teil des Abends besonders stark. Eingeleitet durch ein grelles Licht, auf das die Tänzer in einer Prozession zumarschieren, werden die Zuschauer durch kleine Gesten an ihren Platz delegiert, bis sich ein großer Kreis gebildet hat: Hier herrscht zwar eine Verwischung zwischen Bühne und Zuschauerraum, aber keine Aufhebung mehr. Die äußere Verlorenheit weicht einer inneren, das Geschehen kulminiert in einem Punkt, von dem aus sich immer wieder neue Gruppendynamiken entwickeln, die sich langsam steigern. Ähnlich wie das ebenfalls in der Jahrhunderthalle aufgeführte „Universe, Incomplete“ von Christoph Marthaler verlangt „Exodos“ dem Publikum einiges ab: Die knapp dreistündige Performance entfaltet sich ohne Pause, lässt keine Zeit zum Durchatmen in diesem Strom assoziativer Bewegungen.

Vielleicht entwickelt der Abend gerade deshalb an manchen Stellen Längen, da er keine Möglichkeit mehr zum selbstständigen Erkunden der Halle lässt. Das liegt jedoch nicht an der Leistung der Tänzer, die kraftvoll die oftmals akrobatischen Elemente meistern. Auch wenn sie sich zu einer Masse zusammenballen, bleibt jeder von ihnen als Individuum erkennbar und erzählt seine eigene Geschichte. Ausgehend von den Fragen „Wovor möchtest du fliehen? Was ist für dich Utopia?“ hat Sasha Waltz eine Choreographie entworfen, die versucht, Antworten auf heutige Fragen und Krisen zu finden.