Foto: Anastasia Pogosova, Yuliia Tolochko, Juliia Birzul, Tetiana Fedishyna, Svitlana Stupak © Sadra Then
Text:Martina Jacobi, am 24. März 2024
Die Grundidee der „Orestie“ – das Ende der individuellen Rache zu einer geordneten Rechtsprechung durch ein Gericht, das die Bürgerschaft repräsentiert – ist die Grundlage von Tamara Trunova und Stas Zhyrkovs „Die Orestie. Nach dem Krieg“ am Düsseldorfer Schauspielhaus. Mit einem Ensemble aus professionellen deutschen und ukrainischen Schauspieler:innen sowie Laien gelingt Zhyrkov mit dem Klassiker eine brandaktuelle Inszenierung, die dem Publikum die ukrainische Kriegsrealität erfahrbar macht.
Die Ukraine wurde durch die russische Invasion im Februar 2024 in der deutschsprachigen Theaterlandschaft so präsent wie nie. Bereits im Schwerpunkt des Maiheftes 2023 hat sich die Redaktion der Deutschen Bühne mit der Frage beschäftigt, wie sich der Krieg auf das Theater auswirkt. Regisseur Stas Zhyrkov verhandelt durch den Krieg in der Ukraine gezeichnete Identitäten in einer Reihe von Produktionen, beispielsweise in „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“ (2022, Schaubühne am Leniner Platz), „News from the Past“ (2022, Münchner Kammerspiele), „Odyssee“ (2023, Düsseldorfer Schauspielhaus) – und nun auch in einer Neubearbeitung von Aischylos‘ „Orestie“ gemeinsam mit der ukrainischen Autorin und Regisseurin Tamara Trunova.
Die Familientragödie wird ins Jahr 2033 in eine Ukraine nach dem Krieg verlegt. Im ersten Intereuropäischen Gerichtshof ist der ukrainische Soldat Orest Horets (Jonas Friedrich Leonhardi) dem Mord an seiner Mutter Kateryna Horets (Friederike Wagner) und seinem Onkel Pavel Davydov (Yaroslav Ros), der aus Russland zur Familie kam, angeklagt. Orest, vor Gericht durch seine Schwester und Anwältin Svitlana Horets (Sophie Stockinger) vertreten, rechtfertigt die Tat als Rache für den Mord an seinem Vater Ivan Horets (Jürgen Sarkiss) durch seine Mutter und den Onkel, die ihn nach dessen Heimkehr als Kriegsveteran brutal ermordet haben sollen.
Geister der Vergangenheit
Die Vergangenheit ist in der Gegenwart präsent wie eh und je: 2022 wurden in der Ukraine beim Ausheben von Schützengräben die Überreste von Wehrmachtssoldaten gefunden. So kehren auch die Geister der „Orestie“ in Zhyrkovs Inszenierung wieder, im Zentrum: unbewältigte Kriegstraumata.
Was ist die Identität eines vom Krieg gezeichneten Staates und seiner Gesellschaft? Es beginnt in einem Museum (Bühne: Paulina Barreiro). Jürgen Sarkiss, erst weiß gewandet als Agamemnon (Kostüme: Justine Loddenkemper), wird zum Vater Ivan Horets, der einem Jungen (Renat Bezpaliuk) von der ukrainischen Hymne erzählt, von Ruhm und Freiheit der Ukraine. Es fallen einschneidende Jahreszahlen: die Unabhängigkeit der Sowjetunion 1991, 2004, als sich der westlich orientierte Präsidentschaftskandidat, Wiktor Juschtschenko, gegen den von Russland unterstützten Wiktor Janukowytsch durchsetzt, die Annexion der Krim 2014 und schließlich 2022 mit dem russischen Angriffskrieg. Zwischen den im Museum ausgestellten Säulenüberresten geistert währenddessen der antike Orest umher, lauert schon auf seine Rolle in der Gegenwart und Zukunft.
In Aischylos‘ „Orestie“ endet die Mordserie durch Blutrache mit dem Freispruch des Orest. Zhyrkov zeigt, wie so ein Fall heute vor einem Gericht verhandelt werden könnte. Die Schuldfrage endet mit der zum Mord verurteilten Schuldigsprechung von Orest Horets. Immer wieder aber verlassen wir den Gerichtssaal, werden in persönliche Schicksale gezogen. Wie schuldig ist ein vom Krieg traumatisierter Orest, der seinem Vater an die Front folgt, nur um diesen bei der Heimkehr ermordet vorzufinden?
Rache ist vielleicht nicht zu rechtfertigen, das Gefühl des Wunsches nach Vergeltung aber wird zumindest nachvollziehbar. Hervor sticht auch immer wieder Gewalt an Frauen als Instrument des Krieges: Was für eine Identität haben eine von russischen Soldaten vergewaltigte Mutter und das Baby, das sie nach der Flucht nach Polen wegen des Abtreibungsverbots dort zur Welt bringen muss? Bilder auf der Bühne, wie wenn sich ein vermummter Soldat bedrohlich langsam den ukrainischen Schauspielerinnen nähert, die sich schützend zusammenzucken, brennen sich ein.
Der Krieg ist Täter
Die Produktion verbindet Trunovas Text mit Originalpassagen aus Aischylos‘ Orestie und dokumentarischen Berichten über den Krieg von Augenzeuginnen. Vitalina Biblivs Auftritt, seit 2015 am Golden Gate Theater in Kyjiw, als zu Gericht gerufene Zeugin und Nachbarin der Familie Horets, vereint persönliche Kriegserfahrungen mit der Rolle. Wenn sie „Jemand soll die Mörder töten!“ schreit, bekommt der in der „Orestie“ verhandelte Rachegedanke erschreckend einfahrende Nahbarkeit. Schließlich aber bleiben alle – Mutter, Vater, Onkel und Sohn – Opfer des Kriegs.
Zhyrkovs Inszenierung ist themenreich vollgepackt, verhandelt grundlegend individuelle Rache anhand der „Orestie“ mit aktuellen Schicksalen von vom Krieg in der Ukraine gezeichneten Menschen, die uns auf der Bühne gegenüber stehen. Und sie beweist die Aktualität von Aischylos‘ Klassiker. Die nicht umkomplexe Verschränkung von Original und Neufassung – geschickt szenisch durch die Drehbühne in verschiedene Settings aufgeteilt –, von antiken und gegenwärtigen Rollen knüpft vor allem in der zweiten Hälfte des Abends alle Fäden zusammen und leitet stringent zum Ende, das den Erynien (Julia Birzul, Tetiana Fedishyna, Yuliia Tolochko, Daria Gabarchuk, Olha Radvanska) und damit hier Stimmen aus der Ukraine gehört.
Ein Urteil ist in Zhyrkovs „Orestie“ zwar gesprochen, wie aber geht es in der Realität weiter? „Wir bleiben mit Fragen“, rufen die ukrainischen Schauspielerinnen ins Publikum: „Wie verhandelt man mit Lügnern? Wie spricht man mit den Toten und was sagt man ihnen?“