Foto: Ensemble und Chor © Bettina Stöß
Text:Roberto Becker, am 3. November 2025
Am Staatstheater Nürnberg erzählt „Innocence“ von den Nachbeben eines Schulamoklaufs. Zwischen Hochzeitsfest und Erinnerungskammer entsteht ein klares, spannungsreiches Musiktheater ohne einfache Antworten. Konzentriert erzählt, atmosphärisch dicht und nachhaltig berührend.
Die Oper „Innocence“ der finnischen Komponistin Kaija Saariaho (1952- 2023) bewies schon bei ihrer Uraufführung in Aix-en-Provence 2021 in der Inszenierung von Simon Stone ihre Thriller-Qualitäten. Sie bannte das Publikum in Lorenzo Fioronis Version der zweiten deutschen Nachinszenierung in Dresden und genau das gelang ihr auch jetzt in Nürnberg in der szenischen Version von Hausherr Jens-Daniel Herzog.
Die Geschichte ist beklemmend, weil sie nichts von ihrer aktuellen Brisanz verloren hat. Amokläufe wie der, von dem das neunsprachige Libretto von Aleksi Barrière (nach der finnischen Vorlage von Sofi Oksanen) in Rückblenden erzählt, gibt es nach wie vor immer wieder. Nicht nur in den waffenverrückten USA. Das wird einem direkt vor Augen geführt, wenn die Überlebenden des Amoklaufs im Stück an die Rampe treten und gleichsam dagegen protestieren, dass es immer nur Rituale der Betroffenheit und Trauer gibt und das Leben dann weitergeht wie vor der gerade beklagten Katastrophe.
Wirkungswucht der Musik
Die emotionale Wirkungswucht liegt aber mindestens genauso an der packenden Musik der Komponistin und dem dramaturgisch geschickten Wechsel zwischen den Sphären. Da ist die Welt der (Über-)Lebenden, von denen die einen dem Amoklauf entkommen sind und traumatisiert um ein Weiterleben ringen. Da sind aber auch die Eltern und der Bruder des Mörders, die das Ganze am liebsten vergessen würden.
Mutter Patricia (Chloë Morgan) würde am liebsten ihren gerade aus der Haft entlassenen Erstgeborenen bei der anstehenden Hochzeit dabei haben. Der eher pragmatische Vater Henrik (Jochen Kupfer) weist das als absurdes Ansinnen von sich, sucht sogar nach eigenen Fehlern. Als Bräutigam und Bruder Tuomas verkörpert Martin Platz überzeugend seine Zerrissenheit zwischen der Sehnsucht nach einem Neustart und der nach und nach ans Licht kommenden Mitschuld als der Komplize, der beim Amoklauf im letzten Moment unerkannt geflohen ist.

Im Bild (v.l.n.r.): Lou Denès, Fredrika Brillembourg, Caroline Ottocan, Emanoel Velozo, Manuel Ried, Martha Sotiriou. Foto: Bettina Stöß
Die Hochzeit gerät aus den Fugen, weil man der Braut, (als Stela fällt Julia Grüter überzeugend aus allen Wolken) den Monster-Bruder (wie er öfter genannt wird) kurzerhand verschwiegen hat. Das fliegt auf, weil die vertretungsweise kellnernde Tereza (Almerija Delic ist mit vollem Stimm- und Körpereinsatz die personifizierte Anklage) zufällig die Mutter einer der getöteten Mädchen ist. Es ist ein dramatischer Höhepunkt, wenn die Verzweiflung der Mütter (eines Opfers und der Mutter des Mörders) elementar ausbricht, die beiden aufeinander losgehen und Patricia die getötete Markéta beschuldigt, ihren Sohn aufs Schlimmste gemobbt zu haben.
Terezas Tochter Markéta ist im Reich der Erinnerung, das von der Lehrerin Cecilia (Fredrika Brillembourg) und fünf weiteren Schülern bevölkert ist, die Stimme der Toten. Die mit jeweils individuellem Profil ausgestatteten Überlebenden Lilly, Iris, Anton, Jérôme, und Alexia sprechen skandierend in verschiedenen Sprachen, wie sie in einer internationalen Schule zusammenkommen.
Spannungscrescendo
Erika Hammarberg sorgt mit ihrem Obertongesang für eine besondere Aura von Markéta, die sich immer wieder direkt aus dem Reich der Toten in die Erinnerung einbringt. Die Verknüpfung zwischen der Hochzeit und dem Reich der Erinnerung, der ständige Wechsel zwischen diesen beiden Sphären auf der Ebene der Szenenwechsel und die theaterwirksam, abwechslungsreiche Musik, deren Steigerung das Vordringen hinter die Fassade von klaren Opfer- und Täterzuweisungen beglaubigt, liefern das Spannungscrescendo, das diesen Abend trägt.
Roland Böer und die Staatsphilharmonie Nürnberg lassen sich auf diese Reise auf die Schattenseite menschlicher Möglichkeiten und die schrittweise Aufdeckung der Vorgeschichte, zu der auch eine gewisse Mitverantwortung gehört, mit Verve ein. Die Spannung aus dem Graben trägt die Sänger und die Szenenfolge.
Mit seiner Bühne hat Mathis Neidhardt diese zwei Welten auf einen geradezu archaisch wuchtigen Punkt gebracht. Die Düsternis, die über allem liegt, wird durch eine gewaltige Blackbox auf der Drehbühne unterstrichen. Der Blick dort hinein wird zum Blick ins Reich der Erinnerung. Hier finden sich die überlebenden Schüler und ihre Lehrerin in einem angedeuteten Klassenzimmer immer wieder vor, während und nach der Tat zusammen.
Das einzig tröstliche an der Geschichte ist der Versuch von einigen der Überlebenden, neu anzufangen. Auch die tote Markéta bittet schließlich ihre Mutter, sie gehen zu lassen und ihr nicht mehr jeden Tag, wie ein Ritual, Äpfel zu kaufen. Mit dem stummen Schrei der Mutter fällt die Bühne zurück ins Dunkel.