Foto: „Innocence“ beim Festival d'Aix-en-Provence © Jean-Louis Fernandez
Text:Roberto Becker, am 4. Juli 2021
„Innocence“ heißt in gleich mehreren Sprachen Unschuld. Es ist der Titel der Uraufführung, die das Festival in Aix-en-Provence aktuell für den internationalen Opernwanderzirkus bereitstellt. Helsinki, London, Amsterdam und San Francisco sind bereits fest gebucht. Das ist keineswegs despektierlich gemeint. Produktionen für Festivals wie das in Südfrankreich bauen schon lange auf Kooperationen, und gerade Novitäten lassen sich kaum noch anders stemmen. Das kann exemplarisch gut gehen wie im Fall der Oper „Written on Skin“ von George Benjamin, die an gleicher Stelle 2012 ihre Uraufführung erlebte, nach Paris und London weitergereicht wurde und seither auch schon einige Male nachinszeniert wurde. Impulse für den Opernbetrieb dieser Art sind unter den Gründen für die Legitimation solcher Festivals wie in Aix-en-Provence längst so gewichtig wie das exklusive Sommervergnügen von reiselustigen Opernfans. Auf der anderen Seite sind sie auch eine internationale Bühne für Komponistinnen wie Kaija Saariaho. Die 1952 geborene Finnin hatte 2000 bei den Salzburger Festspielen mit der Uraufführung ihrer ersten Oper „L’amour de loin“ einen fulminanten Einstieg als Opernkomponistin.
In Aix-en-Provence wurde jetzt die Uraufführung ihrer fünften Oper vom Premierenpublikum im Grand Théâtre de Provence einhellig bejubelt. Ihre gemäßigt moderne Musik hat dabei nicht den Ehrgeiz, Novitäten auszustellen; sie nutzt die Möglichkeiten des großen Orchesters für einen vollen Klang, der eine beklemmende Atmosphäre imaginiert, die Handlung vorantreibt und alle 13 Charaktere zur Geltung bringt. Die Musik packt durch den Inhalt und die Spannung, die sie transportiert im Bündnis mit den Hörern, und nicht, indem sie auf Konfrontationskurs zu deren Erwartungen geht. Die Finnin Susanna Mälkki ist am Pult des London Symphony Orchestras dafür genau die richtige Dirigentin. Mag sein, dass Puristen des Neuen bei dieser Musik der letzte Kick fehlt, aber im Saal kommt sie an, liefert ein tragfähiges Fundament für ein Gesamtkunstwerk, an dessen Gelingen die Umsetzung auf der Bühne einen entscheidenden Anteil hat.
Es war zwar ursprünglich nicht so geplant, die Verschiebung der Uraufführung um ein Jahr ergab sich aber durch den Ausfall des Festspieljahrgangs 2020, so dass einen Tag nach seinem szenisch verunglückten „Tristan“ (siehe die Kritik von Joachim Lange, Anm. d. Red.) schon wieder Simon Stone als Regisseur am Werk war. Diesmal hatte er offensichtlich das richtige Stück für seine Qualitäten vor sich. Dass Stone ein zweietagiges Bühnenhaus auf der (gut dosiert eingesetzten Drehbühne) bespielen kann, gehört spätestens seit seiner Basler Überschreibung von Tschechows „Drei Schwestern“ zu seinen Markenzeichen. Was ihm Bühnenbildnerin Chloe Lamford gebaut hat, bietet die Räume, die es erlauben, Menschen beim Leben zuzuschauen beziehungsweise dabei, wie sie nach und nach erstarren, als eine zehn Jahre zurückliegende Katastrophe, die man so konsequent wie erfolglos verdrängen und vergessen will, durch einen Zufall wieder hochkommt.
Es geht in der Geschichte der finnischen Autorin Sofi Oksanen um ein Schulmassaker, dessen Verlauf und Folgen auf zwei Zeitebenen in den fünf Akten in 105 Minuten zu einem Opernpsychothriller verwoben werden. Das finnische Originallibretto hat Aleksi Barrière mit englischen, tschechischen, rumänischen, französischen, schwedischen, deutschen, spanischen und griechischen Passagen multilingual aufgerüstet. Es geht um die Hochzeit eines finnischen Bräutigams (Markus Nykänen) mit seiner aus Rumänien stammenden Braut (Lilian Farahani). Sandrine Piau ist die französische Schwiegermutter. Auch der Finne Tuomas Pursio als ihr Mann und Vater des Bräutigams kann in seiner Muttersprache bleiben. Ebenso wie Magdalena Kožená in der Rolle der kurzfristig bei der Hochzeitsfeier eingesprungenen tschechischen Kellnerin. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als die (zu spät) bemerkt, dass sie einen Job im Haus der Eltern des Mörders ihrer Tochter Markéta angenommen hat. Die Finnin Vilma Jää setzt hier einen besonderen folklorehaften vokalen Akzent als Geist der Ermordeten, von der sich die Mutter auch nach zehn Jahren nur schwer zu lösen vermag. Natürlich lässt sich das verdrängte Familiengeheimnis vor der Braut nicht lange verbergen. Und wir erleben in kurzen, teils gesprochenen Statements eines halben Dutzends überlebender Mitschüler und der Lehrerin (Lucy Shelton) den Tag der Katastrophe als traumatisierende Erinnerung. Aber es kommt auch die Vorgeschichte zur Sprache, die vom Mobbing des späteren Amokläufers berichtet. Und am Ende kommt heraus, dass auch der Bräutigam mit seinem Bruder gemeinsam losgezogen war, aber dann doch vor dem Blutbad floh…
So wie der packende Opernthriller „Innocence“ in Aix-en-Provence auf die Bühne gebracht wurde, ist das ein denkbar guter Start für eine Opernnovität!