Szene mit Marisol Montalvo als Lulu

Nighthawks

Olga Neuwirth: American Lulu

Theater:Komische Oper Berlin, Premiere:30.09.2012 (UA)Autor(in) der Vorlage:Alban BergRegie:Kirill SerebrennikovMusikalische Leitung:Johannes Kalitzke

Zum Start seiner Intendanz hatte Barrie Kosky versprochen, dass er das Schubladensystem des Musiktheaterbetriebes mal ordentlich durcheinanderwirbeln wolle an der Komischen Oper Berlin. Nach der zweiten Premiere darf man ihm attestieren: Er lässt den Worten Taten folgen. Schon der Auftakt mit dem Drei-Opern-Marathon präsentierte den überwiegend begeisterten Zuschauern Monteverdi im eigenwilligen Sound-Lifting der usbekisch-australischen Komponistin Elena Kats-Chernin. Und nun entpuppte sich auch die Uraufführung von Olga Neuwirths „American Lulu“ nicht etwa als strenges Hochamt der neuen Musik, sondern als eine Art Lulu-Musical: in der düsteren, von flimmernden Comic-Strip-Videos überblendeten Film-Noir-Ästhetik des russischen Theater- und Film-Avantgardisten Kirill Serebrennikov, der auch die Ausstattung entworfen hat; und in einem Klangbild, das das zwischen Schwüle und Strenge so eigenartig schillernde Idiom, das Berg in seiner unvollendeten Wedekind-Oper „Lulu“ anschlägt, mit dem Sound des New-Orleans-Jazz übermalt.

„American Lulu“: der Titel ist Konzept. Neuwirth, die ebenso produktive wie kompromisslose Österreicherin, die sich 1989 mit „Bählamms Fest“ in die erste Aufmerksamkeits-Reihe der zeitgenössischen Komponistinnen katapultierte und zuletzt mit den Opern „Lost Highway“ (Graz 2003) und „The Outcast“ (Mannheim 2012), aber auch durch einige veritable Kräche auf sich aufmerksam machte (auch diese Uraufführung war bedroht durch einen erst drei Tage vor der Premiere abgelehnten Antrag auf eine Einstweilige Verfügung des Video-Künstlers Stan Douglas, der urheberrechtliche Ansprüche auf die Grundidee von „American Lulu“ geltend machte) – Neuwirth also transportiert Bergs und Wedekinds Lust- und Schreckensvision weiblicher Sexualität vom Wien des späten 19. Jahrhunderts in das New Orleans der 50er und das New York der 70er Jahre. Lulu ist hier weniger auf Grund ihres Geschlechts als vielmehr ihrer Hautfarbe diskriminiert: Ebenso wie die Gräfin Geschwitz und Schigolch ist sie eine Afroamerikanerin, deren Schicksal durch eingeblendete Spracheinspielungen aus Reden von Martin Luther King und Gedichten der Schriftstellerin June Jordan auf den Hintergrund des _civil rights movement_ und des Kampfes farbiger Amerikaner um Gleichberechtigung projiziert wird.

Mit der Hautfarbe ändern sich in der englischsprachigen Überbarbeitung durch Neuwirth sowie Helga Utz und Catherine Kerkhoff-Saxon nicht nur die meisten Namen, sondern vor allem die Klangfarbe. Auch sie wird gewissermaßen schwarz, speist sich aus jenen Jazz-, Blues- und Soul-Quellen, in denen afroamerikanische Künstler im vergangenen Jahrhundert tonangebend waren. Dabei hält sich Neuwirth in den ersten beiden noch von Berg vollendeten Akten weitgehend an dessen Noten, die sie mit neuer Orchestrierung und scharfen Schnitten präsentiert, um diese Übermalung im dritten Akt in ihr eigenes Idiom zu überführen. Diese stilistische Mutation ist aus mehreren Gründen plausibel. Zum einen zitiert schon Berg selbst in der Varietée-Szene die Jazzband-Musik der 20er Jahre; Neuwirth orientiert sich in ihrer Instrumentierung (Flöte, Klarinetten, Saxophone, Blech, Percussion, Jazz-Schlagzeug, Synthesizer, E-Gitarre und doppelt besetzte Streicher) an diesem Zitat, so dass Berg hier weniger klangsubtil als im Original, dafür aber Jazzband-brazzig und Slide-melancholisch klingt; die Filmmusik zwischen Akt 2 und 3 hat sie von einer wildwogenden Wander-Morton-Kinoorgel einspielen lassen, die Stilsicherheit ihres dritten Akts aus eigener Feder verrät, wie sehr ihre musikalische Sozialisation durch Jazz und Blues geprägt war. Immerhin war ihr Vater ein angesehener Jazzpianist und -kenner, sie selbst wollte mal Jazztrompeterin werden.

Stattdessen wurde sie Komponistin – und eine Streiterin für den weiblichen Blick auf die Kunst und die Gesellschaft. Doch dieser „weibliche Blick“ auf Lulu, den sie im Programmheft ausdrücklich reklamiert, kommt Neuwirth künstlerisch mächtig in die Quere. Er läuft nämlich auf eine Denunziation der Hauptfigur und auf eine reichlich verquaste Nobilitierung der Gräfin Geschwitz hinaus. Letztere ist bei Berg und Wedekind die treue lesbische Gefährtin der Lulu; Neuwirth und ihre Mit-Übermalerinnen taufen sie Eleanor und machen aus ihr eine Soulsängerin, die sich mit Lulu entzweit, weil sie auf ihrem Recht auf eine authentische Innerlichkeit beharrt, während die Titelheldin längst durch ihre Karriere in der etablierten Gesellschaft korrumpiert ist. Wer aber korrumpiert ist, erleidet Schaden an der Seele, das macht das erste Bild deutlich, wo wir Lulu als schicke Edelhure im feinen Pelz sehen, die mit all ihrem Reichtum ihre innere Leere nicht füllen kann – und die deshalb aus ihrer verglasten New-Yorker 70er-Jahre-Nobelveranda mit Blick auf die Lichter der Großstadt heraus- und in das New Orleans der 50er-Jahre hineinstürzt, wo ihr Aufstieg als Hure begann. Am Ende ist sie reich und mächtig, weil sie von ihren Upperclass-Kunden die Geheimnisse des kapitalistischen Wirtschaftslebens erfährt; und irgendeiner dieser Männer, vielleicht auch alle zusammen, bringt sie schließlich zum Schweigen – wie, daran lässt die finale Projektion mit ihrem blutigen nackten Körper keinerlei Zweifel.

Dass damit Wedekinds und Bergs geheimnisvoll schönes Frauentier an ein Klischee denunziert wird, nämlich an die berechnende erotische Karrieristin (und damit auch wieder an eine typisch männliche Angstphantasie), ist befremdlich genug. Noch befremdlicher ist, dass Neuwirth die durch Eleanor markierte Gegenposition musikalisch nicht zu beglaubigen vermag. Diese Rolle ist an der Komischen Oper mit der Soulsängerin Della Miles besetzt, Neuwirth hat ihr eine entsprechend soulige Musik geschrieben, die gegenüber dem Berg-Idiom der Lulu aber rettungslos nach kommerzieller U-Musik klingt. „Authentizität“ vermittelt sie nicht einmal ansatzweise. Hinzu kommt, dass Miles, die im edlen Apricot-Kostüm und mit Afrolook-Mähne wie die Backing-Vocalistin eines schicken Nachtclubs wirkt, der Urvitalität der Lulu-Darstellerin Marisol Montalvo nichts entgegenzusetzen hat. Lulu hat die stärkere Darstellerin und die stärkere Musik – da hilft kein weiblicher Blick.

So bietet diese „American Lulu“ neben den Reizen einer schillernden Stiltravestie wenig dramatische Substanz, auch weil weitere Charaktere wie der Machtmensch Dr. Bloom (bei Berg: Dr. Schön), sein Sohn Jimmy (Alwa) oder Clarence (Schigolch) genau so klischeehaft blieben wie die beiden Antipodinnen. Das liegt auch an Serebrennikovs Inszenierung, die zwar eine sehr atmosphärische Schwarz-Weiß-Optik bietet: in den Akten 1 und 2 mit einem verglasten Diner-Restaurant, das deutlich auf Edward Hoppers „Nighthawks“ anspielt; und mit einem Personal zwielichtiger Gestalten in Film-Noir-Hut und -Anzug, die Lulu in der Tat wie geile Nighthawks umschwärmen. Das sieht gut aus und ist über Strecken auch unterhaltsam, aber gegen Serebrennikovs eindimensionale Personenführung vermag sich einzig Marisol Montalvo zu behaupten. Das Antirassismus-Thema wird so gut wie gar nicht bedient, die Martin-Luther-King-Reden bleiben seltsam irrelevant, das Finale mit dem billig ironisierten „We shall overcome“-Pathos des Ensembles in goldenen Glitzershowjacketts wirkt nur verquer.

Durch Neuwirths Klangübermalung verschieben sich die gesanglichen Maßstäbe in Richtung Jazz und Soul, und dafür liegt Montalvos Lulu-Interpretation mit krassen Registerwechseln zwischen rauer Bruststimme und girrender Höhe genau richtig. Della Miles’ Eleanor wirkt in den beiden ersten Akten etwas fremdkörperhaft, im von Neuwirth komponierten Akt 3 gelingt die Integration besser. Claudio Otelli forciert den Dr. Bloom, ohne dadurch Ausdruckskraft zu bekommen, alle anderen bieten durchschnittliche bis gute, aber kaum profilierte Leistungen. Große Anerkennung verdient der Dirigent Johannes Kalitzke, unter dem das Orchester der Komischen Oper der interessant ambivalenten Idiomatik von Neuwirths „Lulu“-Musik ein Maximum an Profilierung und Differenzierung abgewinnt.