Daniel Arnaldos und Denis Lakey

Narkotisierende Klanggesänge

Richard van Schoor: Alp Arslan

Theater:Stadttheater Gießen, Premiere:04.05.2019 (UA)Regie:Cathérine MivilleMusikalische Leitung:Jan Hoffmann / Martin Spahr

Vor sieben Jahren sorgte der ägyptische Künstler Wael Shawky auf der documenta 13 mit seiner Filmtrilogie „Cabaret Crusades“ für Furore, in der er mit Marionetten die Geschichte der mittelalterlichen Kreuzzüge als Kabarett nachstellte. Shawky fragte nach der Auseinandersetzung mit dem Fremden und der Konstruktion von Geschichte und drehte die eurozentrische Perspektive auf die christlichen Kreuzzüge radikal um.

Etwas Vergleichbares, verklammert mit aktuellen politischen Bezügen versucht nun die vom Stadttheater Gießen in Auftrag gegebene Oper „Alp Arslan“ des südafrikanischen Komponisten Richard van Schoor und des Librettisten von Willem Bruls, einem niederländischen Dramaturgen, Autoren und Orient-Experten. Der titelgebende Alp Arslan ist eine historische Figur, er wurde im syrischen Aleppo des 12. Jahrhunderts zur Zeit der Kreuzzüge im jugendlichen Alter zum Sultan und erwies sich als äußerst labiler Herrscher, der seine paranoiden Ängste durch eine Despotie des Schreckens kompensierte. Die Oper thematisiert die Geschichte des Titelhelden – dessen Name so viel bedeutet wie „tapferer Löwe“ – sowie dessen zutiefst gestörte zwischenmenschliche Beziehungen zu den ihn umgebenden Frauen (Mutter und Großmutter) und die auch sexuell aufgeladene zu dem Eunuchen Loulou, der eigentlichen Hauptfigur. Doch damit nicht genug, denn das Werk verschränkt diese ohnehin schon schreckenssatte, bizarre Handlung mit dem heutigen Schicksal der gebeutelten syrischen Bürgerkriegsstadt Aleppo. Als „Requiem für Aleppo“ bezeichnen die Macher dann auch das Werk, das am Ende nach sehr langen 110 Minuten doch eher befremdet zurücklässt.

Wenn der Vorhang, auf den zuvor die intakte Silhouette der Stadt Aleppo projiziert wurde, hochgeht, sieht man in einer angedeuteten Wüsten-Dünenlandschaft nur einen singenden Kopf: Loulou (der Countertenor Denis Lakey) wimmert, rezitativisch karg gesetzt: „Schrecklicher Schmerz!“ Zuvor hatte nervöses Streicherflimmern über Kontrafagott-Grundierung bereits eine hinreichend beunruhigende Stimmung suggeriert. Die Szene ist eine Rückblende: Loulou erinnert sich an seine Kastration im Teenie-Alter, als ihm seine Hoden mit glühendem Eisen verbrannt wurden und er – dem fast sicheren Tod geweiht – in der Wüste bis zum Kopf eingegraben wurde. Dann springt die Handlung zum Tod des Ridwan, des Sultans von Aleppo, der seine Herrschaft auf dem Totenbett an seinen nervösen Sohn übergibt. Diesen stattet der Komponist mit einer Tenorstimme aus (Daniel Arnaldos), die fortwährend riesige Intervallsprünge bewältigen muss und sich von der Herrschaft überfordert fühlt. Nun schlägt die Stunde von Loulou, der seine Kastration als Gezeichneter überlebte und ein schwer durchschaubares Spiel zwischen Machtpoker, erotischer Zuneigung und Vernichtungskrieg mit dem neuen Sultan beginnt. Das Ganze kann natürlich nicht gut gehen, im zweiten Akt kommt plötzlich ein orthodoxer Gottesdienst (unter der berühmten Rosette von Notre Dame) auf die Bühne, im dritten Akt eskaliert der Machtkampf zwischen Loulou und Alp Arslan, der im Mord des jungen Sultans endet, im Epilog schließt sich der Kreis, indem wieder nur der inzwischen selbst getötete Loulou erneut seinen „schrecklichen Schmerz“ als singender Kopf beweint.

Der Komponist Richard van Schoor gab vorab zu Protokoll, er habe eigentlich eine abstrakte, eher minimalistische, ort- und zeitlose Partitur im Sinn gehabt, sich dann aber durch die Zusammenarbeit mit dem Orient-Experten Willem Bruls davon überzeugen lassen, dass es ohne musikalisches Lokal-Kolorit nicht gehe. So besetzt van Schoor das Philharmonische Orchester Gießen, ergänzt aber den mit experimentellen, auch elektronisch verfremdenden Techniken vertrauten Cellisten Mathys Mayr, Evgeni Ganev an Tasteninstrumenten (auch präpariertes Klavier), sowie einen syrischen Sänger und vier mit traditionellen orientalischen Instrumenten ausgerüstete syrische Musiker, die ihre eigene Musik mitbringen. Diese wird aber nicht oder kaum integriert in die Partitur. Schoors Komposition bleibt über weite Strecken karg, die Gesangsstimmen bemühen abwechselnd rezitativischen Sprechgesang, psalmodierende Klagegesänge – die sowohl auf orientalische wie auch frühchristliche Traditionen verweisen – oder expressive Passagen gemäßigter Modernität. Das Orchester kommt überwiegend in den Vor-Zwischen- oder Nachspielen zu Wort, sonst bleibt der Gesamteindruck auf lähmende Weise stagnierend. Auch die mitunter recht massiven Chöre bleiben überwiegend in blockhaft gesetzten Psalmgesängen stecken, was die gewünscht archaische Stimmung erzeugt, die aber dennoch seltsam behauptet bleibt.

Intendantin Cathérine Miville setzt das Ganze schnörkellos, aber auch recht konventionell in Szene. In der Gottesdienst-Szene wähnt man sich in einer verstaubten „Boris Godunow“-Inszenierung, im letzten Akt in einem Sandalen-Film der 1950er Jahre. Dabei bietet Marc Jungreithmeiers Drehscheiben-Bühne viele Möglichkeiten und es gibt optisch durchaus starke Momente. Auch die musikalische Ausführung des Abends ist famos, sowohl Jan Hoffman im Graben mit dem erweiterten Ensemble, als auch das Sängerensemble (vor allem der Countenor!), die Chöre und die syrischen Musiker leisten Großes. Aber das ganze Projekt und sein hoch ambitionierter Anspruch schielen doch zu penetrant auf Betroffenheit und die wohlfeile Weisheit, dass sich in der Geschichte alles wiederholt und die Menschheit nicht lernfähig ist. Vielleicht ist der Abend auch einfach nur zu lang.