„Der gute Mensch von Sezuan“ in Moers

Kapitalistische Flatulenzen

Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Seezuan

Theater:Schlosstheater Moers, Premiere:31.08.2023Regie:Ulrich Greb

Brechts kapitalismuskritisches Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ wird in Ulrich Grebs Inszenierung zu einer beeindruckenden Parabel über die kapitalistische Blase. Wieder überzeugen am Schlosstheater Moers die Schauspieler:innen, aber auch Birgit Angeles grandioser Bühnenballon.

„Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen“ – kalauert es bekanntlich pädagogisch am Ende des berühmten, wirkungslosen Klassikers „Der gute Mensch von Sezuan“. Schon Brecht war in seiner lehrstückhaften Schein-Naivität klar, dass die Welt grundlegend verändert werden muss. In Moers gibt’s keinen Vorhang und keine Fragen mehr, sondern zwei silbern glänzende Revolver als Lösung. Und dazu eine Shen Te (Marissa Möller), die am Schluss wie in einem Film von Quentin Tarantino den Göttern und ihrem Menschenexperiment den Garaus macht. Die zunächst genüsslich abgearbeitete Kill Bill mündet in eine wilde Ballerorgie, die auch das Publikum ins Visier nimmt. Schließlich wirft sich Shen Te in Positur: „Das bin ich!“ Black. Ein guter Mensch oder das hemmungslose, gewalttätige Individuum (und sein Eigentum)?

Kein Hure-mit-Herz-Kitsch

In Ulrich Grebs Inszenierung am Schlosstheater grübelt man allerdings schon über der Ausgangsfrage. Die Götter mit ihren ausgesteiften barockisierenden Perücken und ihrem gezierten Gestus mögen glauben, in der Prostituierten Shen Te den guten Menschen gefunden zu haben (Ulrich Greb ersparte dem Publikum glücklicherweise den Brechtschen Hure-mit-Herz-Kitsch); doch unterscheidet sie sich kaum von ihrem späteren Alter Ego Shui Ta, der als Mann fürs Grobe die kapitalistische Kärrnerarbeit machen muss: Dasselbe silbrige Paillettenjäckchen zu hellen Jeans und Boots. Die Inszenierung erspart sich den Verkleidungsfirlefanz, stellt damit auch Brechts klischierte Idee von moralisch-weiblich und kapitalistisch-männlich gelesenen Figurenanteilen kritisch in den Raum – und knüpft zugleich an zeitgenössische Diskurse an.

Das Stück selbst blickt auf eine lange Inkubationszeit zurück. Erste Entwürfe gehen bis in die 1920er Jahre zurück. Die Endfassung liegt erst 1941 vor. Mit der Parabel „Der gute Mensch von Sezuan“ versuchte Brecht, nach dem „Galilei“ und der „Mutter Courage“ wieder zu seiner Lehrstückpraxis zurückzukehren oder, wie er sagte, „den Standard“ wieder zu erreichen. Der Plot ist simpel und komplex zugleich. Das Generve der Menschen über die Unbewohnbarkeit der Welt veranlasst die Götter zu einem Experiment: Sie schenken dem guten Menschen Shen Te Geld; sie kauft sich davon einen Tabakladen, kann sich aber der Gier ihrer Mitmenschen kaum erwehren. Der Ausweg liegt in der Erfindung des Vetters Shui Ta, der als kapitalistischer Wadenbeißer die Drecksarbeit macht – wobei die aus heutiger durchkapitalisierter Sicht gar nicht so drastisch erscheinen. Brecht diskutiert Klassenzugehörigkeit, Privatmoral versus ökonomischen Egoismus, Liebe als Ware, technischer Fortschritt, Bildungsfragen usw. Am Ende bleibt aber die Grundfrage, ob ein menschenwürdiges Leben in der kapitalistischen Welt überhaupt möglich ist – das ist es selbstverständlich nicht.

Im Darm des Kapitalismus

In Moers wird die Frage, was überhaupt die kapitalistische Welt ist und was sie umfasst, mit einer beeindruckenden Bildmetapher beantwortet. Ausstatterin Birgit Angele hat einen gewaltigen Ballon entworfen, der einen nach außen gestülpten Darm mit Divertikel, Anus, blutenden Hämorrhoiden – inklusive ständiger Flatulenzen – darstellt. Das Bild steht in einer jahrhundertealten Tradition, die den Kapitalismus mit dem monströsen Imaginären verbunden hat. Er galt als Zombie, Vampir, Werwolf, Raubtier, Teufel, Allesfresser – eine Symbolik, die Ängste kanalisieren hilft, vor allem in Krisenzeiten; und die in ihrem Aufruf des Verdrängten und Abseitigen auch darauf reagiert, dass kapitalistische Praktiken so schwer zu veranschaulichen sind. Der bühnenfüllende Darm spielt somit nicht nur auf das Bild vom alles verschlingenden und verdauenden Kapitalismus an. Die Figuren schauen immer wieder aus verschiedenen Öffnungen heraus und deuten so an, dass es nicht nur um wirtschaftliche, sondern letztlich gesamtgesellschaftliche Praktiken geht.

Ulrich Greb macht sich einen interpretatorischen Spaß daraus, wer an welcher Stelle, wer auf welche Weise mit dem Darm verbunden ist: Brillant, wie Magdalene Artelt als Barbier Shu Fu mit Babyface-Maske und säuselnd-gestochener Diktion vom Darm-Scheitel herab die moralische Integrität Shen Tes umschwärmt. Oder wie Ludwig Michael als Flieger Yang Sun – mit Goldpaillettenjacke halb im Blinddarm steckend – erste Bekanntschaft mit der Heldin macht. Oder wie Matthias Heße als dekadenter Polizist und die blasierte Witwe Shin des Leonardo Lukanow sich gegenseitig anbaggern.

Brechts Chinoiserie wird  mit weiß geschminkten Gesichtern und stark farbig betonten Augenpartien eher dezent aufgenommen. Die Inszenierung verfährt ansonsten eher eklektisch, holt sich Anregungen aus dem Grand Guignol, wenn der Barbier dem Wasserverkäufer mit der Gartenschere die Hand abtrennt; aus Trash und Splatter, wenn das Blut aus dem Anus spritzt. Eher enttäuschend verlief die groß angekündigte Zusammenarbeit mit dem Trio Recursion, derzeit Improviser in Residence des moers festival. Ihre Neuinterpretation der Musik von Paul Dessau verläuft sich irgendwo zwischen Metal, Elektropop, Drum and Bass sowie Noise-Elementen – wirklich überzeugend war das nicht.

Oder vielleicht doch, wenn man den geschrieenen, gequälten, bissigen Gesangsgestus der Schauspieler:innen in Rechnung stellt, die letztlich den Verwertungszusammenhang der Musik selbst mitthematisieren. Am Ende bleibt die Frage, ob die Inszenierung nicht selbst Teil der Stückfrage ist: Die notorisch wiederholte Feststellung, dass die Welt verändert werden muss, damit der Mensch gut sein kann. Ob der Mensch das überhaupt ist, wäre zu fragen. Das hemmungslose Selbst-Bekenntnis Shen Tes „Das bin ich!“ jedenfalls ist mehr Bestandsaufnahme, als dass es Hoffnung macht.