Foto: Unterricht bei Drag Queen Lady Da Drill (Kelly Heelton). © Max Borchardt
Text:Bernd Zegowitz, am 7. Dezember 2025
Am Staatstheater Wiesbaden kommt die queere Landoperette „Alles Liebe!“ zur Uraufführung. Das Stück ist so grell und bunt wie die Inszenierung von Anna Weber: mit Flitter und Glitter, Glamour und l’amour. Am Ende steht das ganze Haus Kopf.
Überlebt und gegenstandslos wäre die Operette erst dann, wenn ihre kecken Glücksforderungen eingelöst und die Objekte ihrer unartigen Angriffe verschwunden wären, meinte Volker Klotz einmal. Das sei nirgends der Fall. Im Gegenteil. Und was vor 35 Jahren galt, gilt heute immer noch. Angegriffen werden in der Realität zurzeit die anderen, etwa diejenigen, die ein queeres, nichtbinäres, transgeschlechtliches Leben führen.
Der Librettist Philipp Amelungsen muss es wissen, ist er doch in der Provinz Sachsen-Anhalts aufgewachsen, wo man als schwuler Mann „mitunter schnell laufen“ musste, „um nicht hart vermöbelt zu werden“. Und jetzt hat er dagegen angeschrieben, den Text zu einer queeren Landoperette verfasst, zu der Misha Cvijović die Musik komponiert hat. Mit dem Stück „Alles Liebe!“ haben die beiden den Preis der Reinhold Otto Mayer Stiftung gewonnen, womit eine Uraufführung am Staatstheater Wiesbaden verbunden war.
Queeres Provinzhessen
Passend zum Ort der Aufführung hat Amelungsen die Handlung in die hessische Provinz verlegt. In ein marodes Dorf, in dem die Bürgermeisterin Carola Weissgut nicht nur gegen die steigenden Schulden und eine aufgebrachte Bürgerschaft, sondern auch den rechtspopulistischen Konkurrenten Freiherr Thor ins Anders kämpfen muss. Der Wahlkampf scheint verloren, als ein Ideenwettbewerb ins Haus flattert, der der strukturschwachen Kommune für die Förderung von Diversität 100 Millionen Euro Preisgeld verspricht. Also wird der Verwaltungsleiter Friedrich Hemmschuh losgeschickt, um queere Menschen für einen Christopher-Dorfstraßen-Tag zu finden.
Ein paar lassen sich auch auftreiben: ein lesbisches australisches Pärchen, der asexuelle John, der schwule Cosimo und der/die nicht-binäre Luca. Zur Vorbereitung auf die Parade entschließt sich das Grüppchen, Unterricht bei der Wiesbadener Drag Queen Lady Da Drill zu nehmen. Doch kommt die Sache mit dem verschwiegenen Preisgeld ans Licht und alles droht zu scheitern. Der CSD wird abgesagt, der Freiherr gewinnt die Wahl und als erste Amtshandlung soll die Regenbogenflagge am Rathaus abgehängt werden. Aber in der Welt der Operette herrschen eigene Gesetze und am Ende sind wirklich alle happy. Glücklich ist, wer nicht vergisst, dass alles zu ändern ist.
Hallöchen Poppöchen
Die Inszenierung von Anna Weber überwindet alle Grenzen, reißt nicht nur die vierte Wand ein und verbindet Bühne und Zuschauerraum. Sie macht auch noch das Foyer zum Laufsteg, der per Live-Video auf die Bühne übertragen wird. Hier werden die queeren Dorfbewohner beim Drag-Workshop geschult. Mit ein paar Bergkulissen und Fachwerkgerippe-Häuschen zimmert Stella Lennert ein Bühnenbild, das die Tristesse des Dorflebens abbildet, seine Schutz- und Hoffnungslosigkeit. Das aber ganz plötzlich Fluchträume aufweist, sei es eine Sternenlandschaft zum Wegträumen oder einen nur halb verschwiegenen Treffpunkt der Schwulenszene, auf dem Cosimo, der „Wunderpo vom Parkplatzklo“, zu finden ist.

Die Dorfgemeinschaft wird bunter. Foto: Max Borchardt
Und dann kann auch noch der ganze Theaterraum zur Bühne umfunktioniert werden. Wenn nämlich Lady Da Drill vor den Vorhang tritt und nicht nur die queere Dorfgemeinschaft schult, sondern das ganze Publikum: Einatmen, Haltung, Pose. Das geht auch im Sitzen. Wild und bunt und voller Anspielungen sind die Kostüme von Alexander Djurkov Hotter und sie werden im Verlauf der Aufführung immer wilder und bunter. Bis selbst die anfänglich im unauffälligen Weinrot gekleideten Dörfler Farbe gewonnen haben.
Am Ende ist alles Liebe
Sowohl der Librettist als auch die Komponistin wissen, was die Operette braucht: ersungene und ertanzte Wachträume, Trink- und Liebesjubel, Selbstverschwendung und Entfesselung des Einzelnen, ein bisschen Liederlichkeit und den Traum von Freiheit und Gleichheit. Am besten ist das Stück, wenn die Träume nicht ausgestellt werden, wenn Botschaften nicht zu direkt vermittelt werden, wenn die Darsteller:innen nicht zu nah an ihren Figuren sind. Wunderbar sind Fleuranne Brockway und Sharon Kempton als leicht frustriertes lesbisches Pärchen, das nach langen emanzipatorisch-feministischen Kämpfen in der Stadt aufs Land geflohen ist.
Herrlich überdreht ist Joshua Sanders als pinker Cosimo und auch Lady Da Drill, alias Kelly Heelton, die den Saal zum Toben bringt. Der verklemmte Hemmschuh, gesungen von Fabian-Jakob Balkhausen, enthemmt sich im Verlauf des Stückes. Er tanzt und singt sich ebenso frei wie der John von Jonathan Macker. Danai Simantiri als Luca bringt stimmlich den Pop und das Musical in die Operette. Silvia Hauer ist eine Wucht als Bürgermeisterin, hadert, eifert, verzweifelt, kapituliert und steht als eine Veränderte wieder auf. Letztlich sind alle vereint: zum ersten Mal in Liebe.
Alles Walzer?
Die Komponistin Misha Cvijović kommt von der neuen Musik, deckt aber dort eine Vielfalt an zeitgenössischen Genres ab. Sie erweitert das fünfzehnköpfige Hessische Staatsorchester Wiesbaden um ein Elektro-Jazz-Trio aus Frankfurt, verbindet Avantgarde mit popkulturellen Einflüssen. Diversität als Thema spiegelt sich auch auf der stilistischen Ebene. Einflüsse aus New Wave, Pop, Musical und Elektronik finden sich ebenso wie Walzer, Märsche, Arien und Operettenschlager. Das erinnert an Lehár und Richard Tauber, an Benatzky und Peter Alexander, an Gershwin und Fred Astaire. Und mittendrin als Koordinator und Motor der Dirigent Paul Taubitz.
Am Ende steht das diverse Premierenpublikum im Wiesbadener Opernhaus Kopf, schwenkt bunte Fähnchen, klatscht im Takt, ist fröhlich und ausgelassen. Brüderlein und Schwesterlein wollen nicht mehr alle sein, die Zeit des Entweder/Oder ist vorbei, das ist die Zukunftsvision der zeitgenössischen Operette.