Foto: Mannheimer Stadtensemble © Natalie Grebe
Text:Martina Jacobi, am 21. Juni 2025
Leo Lorena Wyss‘ Auftragswerk „Mannheimer Räuber*innen“ vom und für das Nationaltheater Mannheim löst sich von der textlichen Vorlage und ordnet Friedrich Schillers 1782 uraufgeführtes Werk „Die Räuber“ in damaligen und heutigen Kontext ein. Die Inszenierung mit dem Mannheimer Stadtensemble führt das Publikum dabei auf eine Bühne draussen im Käfertaler Wald.
Wo befinden wir uns? Grün-idyllisch, geheimnisvoll, knarzend, raschelnd, geschichtsträchtig – im Mannheimer Käferwald, in Deutschland, bei den „Mannheimer Räuber*innen“. Da ist eine kleine Forsthütte – und dann führen drei Kinder in Rot gekleidet die Zuschauer:innen in den Wald. Das tun sie ganz stumm und flugs geistern einer:m Gedanken im Kopf rum und die Bäume rascheln geheimnisvoll mit: Schiller, Mannheim, Räuber, Räuber*innen, Wald – wo führt das hin?
Hausator:in Leo Lorena Wyss‘ Auftragswerk vom und für das Mannheimer Nationaltheater gemeinsam mit dem Mannheimer Stadtensemble ist eine Verortung: Vom Publikum, von den Spieler:innen, von diversen Bedeutungen von Wald, nicht zuletzt von Friedrich Schiller und seinem ersten veröffentlichten und am Nationaltheater Mannheim 1782 uraufgeführten Drama „Die Räuber“.
Neuverortung
Hoch ragen die Baumkronen in den Himmel, das Wurzelwerk unter den Füßen reicht in der Vorstellung metertief. Das Publikum sammelt sich auf Campingstühlen auf einer Lichtung. Da ist ein Hochsitz, Baumstümpfe, Stoffstücke – aufgespannt wie ausblutende, trocknende Felle –, ein Cello liegt auf dem Waldboden, weiter hinten steht im Geäst ein Klavier. Und alles bis hin zu den Kostümen der Darsteller:innen leuchtet blutrot.
„Das ist der Beginn einer Geschichte, die sich nach und nach um unsere Körper schlingt“, spricht das Ensemble im Chor. Eine Geschichte, unsere Geschichte, der sich kein menschlicher Leib entziehen kann. Das beginnt beim einzelnen Körper und hier liegt eine Gedankenverbindung zu Kim de l’Horizons „Blutbuch“ nahe: Körper, Stamm, Stammbaum, Ahnen, Wurzelwerk, Leben erhaltendes Netzwerk, Vergangenheits- und Relationsschmerz – von allen individuell, aber auch in unsereren kollektiven Geschichten- und Geschichtserzählungen.
Die im Stücktext festgehaltene ChatGPT-Anfrage zu Schillers Räubern in sechs Begriffen ergibt: Freiheit, Heimat, Liebe, Schuld, Brüderschaft und Verrat. Jede Bezeichnung eröffnet und spiegelt Interpretationsspielräume. Im Zentrum bei Schiller ist er, der Protagonist, der erstgeborene Sohn Karl. Und da ist in so vielem die patriarchale Vorherrschaft, das sich daran entlanghangelnde Narrativ unserer Weltbeschreibung und -sicht.
Realitäts-Collage
Der Ironie zuspielend verortet sich diese Inszenierung beim Karlstern, dem zentralen Punkt des Käfertaler Waldes, gegründet 1745. Hier errichtete Kurfürst Karl Theodor von Pfalz Bayern sein Jagdhaus. Zur zwitschernden Soundkulisse aus den Bäumen erklingen plötzlich Waldhörner. Zum Wald gehören immer die Jäger, und dazu gehören immer die Gejagten. Von hier spannt sich der Erzählbogen der Inszenierung auf zur individuellen Geschichte jedes Ensemblemitglieds. Wer ist hier und wieso, woher? Vielleicht geflüchtet vor einem Krieg? Wer versteckt sich im Wald? Wer sucht Schutz? Wer jagt?
Wyss‘ stark assoziative Sprache und der mit dem Ensemble entwickelte Text legen ein erstaunlich breites Themenspektrum offen und fädeln doch all diese Fragmente zu einer neuen Realitäts-Collage zusammen, die im Nachhinein in Gedanken gut weiterarbeitet. Beata Anna Schmutz‘ Inszenierung verbildlicht die unter den Geschichten liegende blutige Spur von sexualisierter und tödlicher Gewalt an FINTA*. Schließlich liegt ein Ensemblemitglied als erlegter Körper auf dem roten Tuch in der Mitte. Andere sind an den wie Lianen von hohen Ästen hängenden Tüchern erhängt.
Das Mannheimer Stadtkollektiv, das den grünen Bühnenraum mit starker Präsenz und Selbstermächtigung eingenommen hat, bietet kein Happy End, sondern spielt den Ball an die Zuschauenden, an deren Geschichten und Weitererzählungen. Es ist an uns, diese aus einer gewählten Perspektive mit zu formen.
Mit: Yasmin Ahmed, Anna Bergler, Emelie Sangwa Blam, Julia Bulkescher, Sari Dorian, Kateryna Mariash, Esther Megbel, Edona Imeri Meta, Aydan Mugan, Fatih Peker, Marfa Vutianova
Kindersprechchor: Ben Fleischmann/Tamino Manske/Emma Metz/Sofiia Rudnitska