Es beginnt tatsächlich sehr lärmig. Die Musik (William Minke) wummert opernhaft laut im eher intimen Akademietheater und die sechs Darstellerinnen und Darsteller geben von Anfang an alles, auch stimmlich. Unverkennbar hat hier Frank Castorf die österreichische Erstinszenierung (insgesamt die Zweitinszenierung) von Elfriede Jelineks Stück zur Pandemie inszeniert; auf die recht kleine Bühne wurde von Aleksandar Denic ein großer, innen begehbarer Kopf mit Helm gebaut; auf der anderen, der linken Bühnenseite ist vor einem Geldautomaten vor allem Platz für eine große nach oben hochziehbare Leinwand. Ein großer Teil der – nur ! – knapp vierstündigen Inszenierung (samt Pause) wird live gefilmt im Hintergrund bzw. im Untergrund, wo sich ein kleiner Gitterkäfig befindet (Live-Kamera: Andreas Deinert, Mariano Margarit, Live-Videocutter: Georg Vogler, Tonangler*in: Flora Rajakowitsch, Matthias Ermert, Video-Design insgesamt: Andreas Deinert) – es handelt sich also wieder einmal um Live-Stream-Theater vor Ort, wie es Castorf seit über 20 Jahren betreibt. Und auf der Leinwand wird dann auch gleich zu Beginn intensiv vom Schicksal des Odysseus und seiner Gefährten bei der Zauberin Kirke berichtet. Die Inszenierung nutzt ausführlich den Text aus dem zehnten Buch der „Odyssee“.
In Jelineks Drama „Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!“ sind Anspielungen auf die Geschichte von der erotisch fragwürdigen Begegnung, in der die Gefährten des Helden zu Schweinen verwandelt sind, verwoben in eine monologische Suada von zu Schweinen gewordenen, selbsternannten Opfern der Mächtigen, die zu mancher Verschwörungstheorie und Corona-Leugnung neigen. Castorf macht die Vorlage hör- und sichtbar – Branko Samarovski etwa ist eingangs ein Sauerstoff-bedürftiger alter Held – und spielt auch immer wieder den Homerschen Originaltext. Die intellektuell fordernden Verknüpfungen in Jelineks Textfläche werden so theatral intensiv belebt. Dabei wirkt die Mischung am Anfang durchaus noch verwirrender als in einer textgetreuen Inszenierung, macht aber mit zunehmender Dauer die Ängste und Verdrängungen der kleinen Gesellschaft seh- und nachfühlbar. Statt mit Videos von Schlachtfabriken oberflächlich Jelineks Text zu ergänzen, setzen Castorf und das grandiose Ensemble (historisch ausschweifend von Adriana Braga-Perektzki eingekleidet) auf die Geschichte von Kirke und den geschwächten Männern und erweitern das mit Jelineks Text; die Leugnung der Krankheit wird so zu einem wiederkehrenden Motiv, das allerdings stärker als in der Textvorlage von menschlich-männlichen Problemen überlagert ist. Der #MeToo-Skeptiker Castorf erweist sich hier als sehr genauer und gnadenlosen Kritiker unserer patriarchalischen Kultur.