Foto: Tänzerin Marie Ramet in „Cantos“ von Maciej Kuźmiński am Hessisches Staatstheater Wiesbaden © Sinah Osner
Text:Miguel Schneider, am 6. Dezember 2025
Mit „Cantos“ schafft Maciej Kuźmiński ein Tanzstück zu Simeon ten Holts „Canto Ostinato“. Zwischen Goya-Groteske und spielerischer Setzung zieht der Abend das Publikum in einen Sog aus Wiederholung, Maskenspiel und kühler Präzision – atmosphärisch stark, dramaturgisch jedoch zu gleichförmig, um den Anspruch einer als „Recherche“ verstandenen Arbeit ganz einzulösen.
Eine Marmorwand wie eine überdimensionierte Schachplatte und die dreizehn Körper davor wirken wie Miniaturen in einem fragilen Weltmodell, in dem das Vertraute ins Unheimliche kippt. Mit Simeon ten Holts offen angelegtem „Canto Ostinato“ – einem Stück, das Dauer und Dynamik gerade nicht festschreibt – erhält der Abend sein paradoxes Grundgesetz. Freiheit in der Form, aber Bindung durch die Wiederkehr.
Dass die Musik live von Ballett-Korrepetitor Waldemar Martynel und dem Pianisten Igor Palmov gespielt wird, macht sie zur sichtbaren Instanz im Raum. Die Klavierpartitur ist dabei weniger Begleitung als Motor und auf den Punkt gespielt.
Deus ex musica
Schon der Auftakt setzt die Hierarchie des Abends klar. Der Pianist Martynel betritt die leere Vorderbühne, blickt irritiert, dann hebt sich der Vorhang und das Ensemble wartet bereits in Formation, als sei es von der Musik vorab „programmiert“. Ten Holts offene Struktur wirkt hier paradoxerweise wie ein unsichtbarer Taktgeber. Kuźmiński baut eine Bewegungssprache, die sich aus Gewicht, Bodenarbeit und wiederkehrenden Impulsen speist, in Form von Verschieben, Ansetzen, Abbrechen, erneutem Anlaufen.
Henri Bergsons „élan vital“-Konzept, das als Ideengeber für die Choreografie gilt, schimmert hier als Gegenbegriff – jener Lebensschwung, der antreibt und nach vorne drängt, trifft auf die beharrliche Wiederholung des Ostinatos. Konkret sichtbar wird dieser Widerstreit in Körpern, die immer wieder versuchen, aus der Schleife herauszukommen und doch an ihr kleben bleiben.

Marcos Novais mit Hirschmaske in Maciej Kuźmińskis „Cantos“. Foto: Sinah Osner
Die Tänzer:innen blicken lange starr geradeaus, emotionslos, wie auf eine fixe Koordinate eingeschworen. Erst wenn Einzelne aus dem Kollektiv kippen, fallen, sich verhaken und kurz „woanders“ stattfinden, wandert der Fokus und die Gruppe reagiert über Blickachsen, nicht über Geschichten. Diese Momente geben dem Abend seine gedanklichen Stiche, nur werden sie zu selten weitergetrieben, sodass aus Variation Spannung und aus Spannung Konsequenz würde.
Masken, Miniaturen, geliehene Identitäten
Gabriela Neubauers Bühne verschiebt die Proportionen und arbeitet mit Maßstab und Kälte. Die marmorierte Fläche wirkt zugleich wie Raster und Zeichnung, eher Versuchsanordnung als Raum. Dazu kommen Kostüme, die an der Realität wortwörtlich „zu lang“ hängen: Krawatten, die den Boden streifen, sowie Anzüge und Hemden in Überlänge. Wenn Masken alter Gesichter ein erschöpftes Kollektiv markieren oder Hirsch-, Hasen- und Stierköpfe den Menschenkopf ersetzen, geht es nicht um Tiermetaphern im plakativen Sinn, sondern um Verantwortungsverschiebungen: Wer handelt? Person, Herde, Reflex?

Ensembleszene in „Cantos“. Foto: Sinah Osner
Kuźmiński und Dramaturg Paul Bargetto streuen Humor als Sollbruchstelle ein, doch die Brechungen bleiben Inseln. Am deutlichsten öffnet sich der Abend in einem fast klassisch gesetzten Einschub. Kaltblaues Licht und klarere Linien setzen ein Vokabular frei, das an „Schwanensee“ erinnert und durch glitzernde Krönchen sowie weiße Handschuhe ironisch konterkariert wird. Plötzlich steht ein Rahmen im Raum, gegen den das zuvor Abstrakte an Kontur gewinnt.
Die philosophischen Bezüge müssen dabei nicht bis zur Eindeutigkeit ausformuliert werden. Gerade weil „Cantos“ eher Zustände als Thesen setzt, entsteht Raum für eigene Lesarten, als Versuch über Trieb und Trägheit, über Mensch und Maske, über Spiegelungen unserer Realität, die im Bühnenbild vergrößert und zugleich verfremdet zurückschlagen. Nicht alles wird griffig, aber manches bleibt hängen, weil es sich dem schnellen „Verstehen“ entzieht und das Denken in der Schwebe hält.
Der Abend hält seine Grundstimmung bis zuletzt: tranceartig, kontrolliert, gespenstisch schön. Das Ensemble des Hessischen Staatsballetts trägt die rund einstündige Vorstellung mit Konsequenz. Was fehlt, sind choreografische Wendungen, die den musikalischen Sog nicht nur begleiten, sondern riskieren und die vielen Denk- und Bildangebote in eine zwingende Notwendigkeit übersetzen.