Foto: Ensemble des Leipziger Theaters der Jungen Welt in dem Tanzstück "Hyper Normal" © Ida Zenna
Text:Tobias Prüwer, am 23. September 2023
Wie weit darf Radikalität gehen? – das hinterfragt das Leipziger Theater der Jungen Welt mit dem neuen Stück „Hyper Normal“. Hier werden radikale Ansichten nebeneinander gestellt und durch Tanz verfremdet. Der norwegischen Choreografin Hege Haagenrud ist so ein Jugendstück gelungen, das sich weder anbiedert noch moralisiert.
„Wer das Schwert erhebt gegen das Volk, der wird durch das Schwert des Volkes umkommen.“ – „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“
Im Zwielicht stehen fünf Figurinen in historisierten Kapuzengewändern, während Georg Büchners Text aus dem Off donnert. Auszüge aus seinem programmatischen Vormärz-Text „Der hessische Landbote“ leiten diese 50 Minuten Tanz über den Menschen in der Revolte ein. Abstrakt und doch sinnlich entfaltet sich im Leipziger Theater der Jungen Welt ein Resonanzraum für die Gedankengänge der Zuschauenden ab 15 Jahren.
Bühne für aktivistische Gedanken
Leer ist der schwarze Bühnenkubus. Nur im Hintergrund ist eine graue Wand zu sehen mit Suchstrahlern, die wie eine Gefängnismauer wirkt. Davor, also mit dem Rücken zur Wand, agieren die fünf Tanzenden in mechanisch, sperrig und steif wirkenden Bewegungen. Diesen Eindruck unterstützen ihre eigenwilligen Kostüme, die die Choreografin Hege Haagenrud selbst entworfen hat. Nachdem die Fünf die Kapuzen abgelegt haben, tragen sie Kleidung, die mit hohem, weitem Kragen und breit ausgestülpten Schulterenden an Rüstungen erinnern. Grotesk sieht sich die Bewegungssprache an, mit der die Tanzenden die Klänge aus den Lautsprechern begleiten und unterstreichen.
Diese enthalten manchmal kurze Musikpassagen – die Einleitung zu Danger Dans Militanz-Melodie „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ findet sich darunter und wird dann verfremdet. Atmosphärisches ist auch zu hören, im Wesentlichen besteht der akustische Teppich aber aus Stimmen. Die stammen aus Vergangenheit und Gegenwart. So befinden sich Aussagen Rudi Dutschkes, Christa Wolfs und Günter Gaus‘ darunter, auch Stimmen von Passanten über Punks und unsaubere Straßen sind versammelt.
Vor allem aber sind es Aufnahmen von heute politisch Aktiven, deren Spektrum von Aktivisten der Letzten Generation bis zu Reichsbürgern und Nazis reicht. Das erfährt man aber erst aus dem Programmheft. Dabei geht es nie um inhaltliche Bestimmungen, sondern es sind Reflexionen über ihr eigenes Verhältnis zur Gesellschaft und über ihr eigenes Handeln. Für wie radikal halten sie sich selbst? Natürlich erscheinen sie in ihren Haltungen wenig unterscheidbar, alle sind von der eigenen Richtigkeit überzeugt, fühlen sich im Recht.
Einzelne Personen sprechen die radikalen Aussagen mit und bewegen sich abstrakt dazu. Foto: Ida Zenna
Politisches Theater in Leipzig
Jede Stimme kommt jeweils in wenigen Sätzen zu Wort, bevor zum nächsten Zungenschlag gewechselt wird – mit einem Ton, der an die Stopptaste von Kassettenrekordern erinnert. Einer der Tanzenden spricht immer leise mit und bewegt sich dazu – in einer Mischung aus Illustration und Karikatur. Größenverhältnisse werden dargestellt, Tätigkeiten nachgestellt, Herzen gemalt und mit Gesten auf die O-Töne Bezug genommen. Weil die Bewegungen sehr ungelenk und unnatürlich ausfallen, ein bisschen wie Roboterdarstellungen oder exaltiert wie Menschen in Stummfilmen aussehen, stellt sich ein interessanter Effekt ein.
Dieses Bewegungsrepertoire, das sich wiederholt, mal schneller wird, lullt nicht ein. Aber es zieht in seinen Bann, während man den politischen Selbstaussagen lauscht. Währenddessen schiebt sich die Wand im Hintergrund immer näher an den Bühnenrand nach vorn, erhöht sich der Druck der Verhältnisse für die Tanzenden. Bis der Letzte das Licht ausmachen muss.
Das Stück „Hyper Normal“ am Leipziger Jugendtheater fragt nach dem Verhältnis zur Gesellschaft. Foto: Ida Zenna
Das funktioniert in seiner Abstraktheit faszinierend gut. Manches Pathos in den Worten lässt sich aufgrund ironisierender Geste weglächeln, dann wieder muss man einem anderen Recht geben. Die Inszenierung nimmt nie Partei, lässt die Stimmvielfalt einfach zu. Das Publikum muss sich selbst verhalten. So wird gerade aufgrund der Abstraktion das Stück zu einem Projektionsraum jedes Einzelnen. Formal geschlossen, zeigt es sich inhaltlich als völlig offen, muss individuell gefüllt werden. Das ist ein starkes Stück Jugendtheater, weil es durch Distanz und Verfremdung sein Publikum unmittelbar anspricht. Wie verhalte ich mich zu Welt und Gesellschaft, hinterfragt dieses wahrhaft politische Theater über den Menschen in der Revolte.