Elias Arens hatte die Serie der Dostojewski-Exegesen eröffnet, Linda Pöppel setzt sie fort im zweiten Teil – und diesen Monolog wird niemand so schnell vergessen. Nackt hängt die Frau da in luftiger Bühnenhöhe, nachdem Blut aus dem Eimer über sie geschüttet wurde; und jetzt spricht sie und spricht und spricht und hört nicht auf, analysiert Satz um Satz das verzweifelnde Ich des von der Welt und Gott Ausgestoßenen, klagt an und fragt nach, was die Menschen-Welt denn überhaupt noch zusammenhält. Kein Christus, keine „Christa“ am Kreuz ist sie, aber diesem Bild schon sehr ähnlich. Und als sie nach einigen Unendlichkeiten herabgelassen worden ist (und der Redefluss verebbt), legt sich ein nackter Körper zu ihr (wieder Arens), scheint sie zu schützen, wickelt dann aber die „Tote“ in Plastikfolie und räumt sie weg – um seinerseits zu monologieren. Dafür wird die Figur mit Ohrfeigen quasi totgeschlagen von Manuel Harders so schlichtem wie monströsem Rächer – bis eine Kollegin eingreift und die Szene inszeniert stoppt. Jetzt jammern alle „Linda friert!“, wickeln sie aus und drapieren sie wie Holbeins Grablegung für die Video-Kamera, die mitten auf der Bühne auf dem Boden steht. Nach einer Weile steht Linda Pöppel auf hinter dem Video und geht lachend ab. Was für eine szenische Konstruktion! Grandios. Zweite Pause.
Fast jede und jeder im Ensemble hat mitreißende Solo-Momente wie diesen – im dritten Teil Birgit Unterweger und (neu am Deutschen Theater, nach gefühlt ewigen Zeiten am Maxim-Gorki-Theater:) Ruth Reinecke, die (als Männer-Figur) von vielen Kindern, der geliebten Maria und vom Tod monologisiert. Überhaupt erzählt Teil drei viel vom Sterben: In einer grandiosen Video-Sequenz schießt ein junger russischer Rotarmist immer wieder auf ein Hitler-Bild und mit jedem Schuss beginnen Filme über den deutschen Nazi-Brandstifter rückwärts abgespult zu werden, bis zum Bild vom Kind Adolf auf dem Schoß der Mutter – da hört der Soldat auf zu schießen.
Manische Momente, rätselhafte Bühne
Während das Ensemble (wie wir mit Stöpseln in den Ohren) gleich darauf über die Bühne wandert und in den Himmel schießt, wieder und wieder… auch manische Momente wie diesen gibt es an diesem Abend. Hartmanns sparsame Bühne ist rätselhafter Teil davon – eine rote Fassaden-Ruine und zwei bühnenhohe Tipi-Zelte, eins nur aus Streben, eins mit Außenhaut. Und Adriana Braga Peretzki hat wie so oft aufregend durchsichtige Kostüme dazu kreiert. Die Ästhetik, auch in Voxi Bärenklaus Bildregie aus Video und Licht, auch in den Sounds von Arno Waschk und Samuel Wiese, ist einmal mehr sensationell an diesem extrem anstrengenden Abend.
Zum Schluss sitzen alle erschöpft nebeneinander an der Rampe – neben Pöppel und Arens, Wetzel und Unterweger, Reinecke und Harder auch Bea Brocks. Peter Rene Lüdicke, der zuvor oft mit Hund durchs Bild spazierte, bringt nun Blumen zur Beerdigung. Regisseur Hartmann setzt sich rechts außen stumm dazu. Und nach zwei Pausen und insgesamt über vier Stunden Dostojewski-Martyrium darf diese einzigartige Truppe sich noch erstaunlich lange feiern lassen