Foto: Ensembleszene aus Sebastian Hartmanns Dostojewski-Inszenierung © Arno Declair
Text:Michael Laages, am 4. November 2021
Der erste Teil ist um, und die Verstörung ist beträchtlich – weit über eine Stunde lang (aber schon gefühlte drei…) hat das Theater das Publikum im endlich wieder voll besetzten Deutschen Theater in Berlin zugeschüttet mit sehr viel Sound und schwer zugänglichen Beliebigkeiten; einer Art Zitaten- und Schnipsel-Salat aus dem 900-Seiten-Opus aus Fjodor Michailowitsch Dostojewskis Gedanken-Werkstatt, das ja ohnehin schon eine Welt aus Wahn und Sinn auffächert. Und Sebastian Hartmann, der es in der Beschäftigung mit den Romanen des unermesslichen Russen ja immerhin aufgenommen hat mit den großen Bilder-Geschichten, die einst Frank Castorf entwarf von diesen Pandämonien, erweckt auch gar nicht erst den Eindruck, dass er die Passion des traurig-verzweifelten Heil-und-Verderben-Bringers Myschkin wirklich erzählen wolle, auch nicht die anderer Hauptfiguren wie vom Kaufmann Rogoschin und dem Beamten Lebedew oder gar der bald Geliebten Nastassja Filippowna Baraschkowa. Keiner und keine im Ensemble spielt wirklich Rollen, keiner und keine gar den zentralen Sinnsucher-Fürsten Myschkin; aber alle tragen seine (und Dostojewskis) Gedanken immerzu in Munde. In diesem ersten Teil bekommt das Publikum nur das akustisch wild zerhämmerte und völlig undurchdringlich assoziierende Splitterbild einer Roman-Eröffnung zu sehen, zu hören und zu spüren. Und weil es derart verhauen wird, regt sich nach dieser ersten Dosis noch deutlich Widerstand im Saal.
Sich materialisierende Gedankenwelten
Aber dann! Jetzt wird höchst ironisch Dostojewski „geliefert“ – und in einem rasenden Live-Video-Monolog vor einer über und über mir russischen Worten beschriebenen Wand fasst der junge Niklas Wetzel die ersten (sagen wir mal: 150) Seiten des Romans zusammen; in angestrengt „russelndem“ Dialekt und mit falscher Betonung fast aller Namen. Mit dieser ulkigen Zirkusnummer ist das Eis gebrochen – und wir beginnen uns einzulassen auf Hartmanns Methode. Die besteht daraus, dass er tatsächlich nichts „inszenieren“ will: keine Begegnungen zwischen dem unerhört zahlreichen Roman-Personal, keine dramaturgischen Entwicklungen, eigentlich überhaupt keine Szenen im üblichen Sinne. Fast alles ist Statement – der Abend greift in einigen weiteren Stunden aus in mal sehr, mal sehr-sehr lange Zitat-Montagen, in denen sich zwar kaum „Theater“-Wirkungen, aber intensiv wie selten die Gedanken-Welten des Autors materialisieren. Und sie tun das auf überaus spektakuläre Weise in den ganz persönlichen Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler – so entsteht eine Sammlung von Endzeit-Monologen, die an Herausforderung kaum zu überbieten sind, für Bühne und Publikum.
Elias Arens hatte die Serie der Dostojewski-Exegesen eröffnet, Linda Pöppel setzt sie fort im zweiten Teil – und diesen Monolog wird niemand so schnell vergessen. Nackt hängt die Frau da in luftiger Bühnenhöhe, nachdem Blut aus dem Eimer über sie geschüttet wurde; und jetzt spricht sie und spricht und spricht und hört nicht auf, analysiert Satz um Satz das verzweifelnde Ich des von der Welt und Gott Ausgestoßenen, klagt an und fragt nach, was die Menschen-Welt denn überhaupt noch zusammenhält. Kein Christus, keine „Christa“ am Kreuz ist sie, aber diesem Bild schon sehr ähnlich. Und als sie nach einigen Unendlichkeiten herabgelassen worden ist (und der Redefluss verebbt), legt sich ein nackter Körper zu ihr (wieder Arens), scheint sie zu schützen, wickelt dann aber die „Tote“ in Plastikfolie und räumt sie weg – um seinerseits zu monologieren. Dafür wird die Figur mit Ohrfeigen quasi totgeschlagen von Manuel Harders so schlichtem wie monströsem Rächer – bis eine Kollegin eingreift und die Szene inszeniert stoppt. Jetzt jammern alle „Linda friert!“, wickeln sie aus und drapieren sie wie Holbeins Grablegung für die Video-Kamera, die mitten auf der Bühne auf dem Boden steht. Nach einer Weile steht Linda Pöppel auf hinter dem Video und geht lachend ab. Was für eine szenische Konstruktion! Grandios. Zweite Pause.
Fast jede und jeder im Ensemble hat mitreißende Solo-Momente wie diesen – im dritten Teil Birgit Unterweger und (neu am Deutschen Theater, nach gefühlt ewigen Zeiten am Maxim-Gorki-Theater:) Ruth Reinecke, die (als Männer-Figur) von vielen Kindern, der geliebten Maria und vom Tod monologisiert. Überhaupt erzählt Teil drei viel vom Sterben: In einer grandiosen Video-Sequenz schießt ein junger russischer Rotarmist immer wieder auf ein Hitler-Bild und mit jedem Schuss beginnen Filme über den deutschen Nazi-Brandstifter rückwärts abgespult zu werden, bis zum Bild vom Kind Adolf auf dem Schoß der Mutter – da hört der Soldat auf zu schießen.
Manische Momente, rätselhafte Bühne
Während das Ensemble (wie wir mit Stöpseln in den Ohren) gleich darauf über die Bühne wandert und in den Himmel schießt, wieder und wieder… auch manische Momente wie diesen gibt es an diesem Abend. Hartmanns sparsame Bühne ist rätselhafter Teil davon – eine rote Fassaden-Ruine und zwei bühnenhohe Tipi-Zelte, eins nur aus Streben, eins mit Außenhaut. Und Adriana Braga Peretzki hat wie so oft aufregend durchsichtige Kostüme dazu kreiert. Die Ästhetik, auch in Voxi Bärenklaus Bildregie aus Video und Licht, auch in den Sounds von Arno Waschk und Samuel Wiese, ist einmal mehr sensationell an diesem extrem anstrengenden Abend.
Zum Schluss sitzen alle erschöpft nebeneinander an der Rampe – neben Pöppel und Arens, Wetzel und Unterweger, Reinecke und Harder auch Bea Brocks. Peter Rene Lüdicke, der zuvor oft mit Hund durchs Bild spazierte, bringt nun Blumen zur Beerdigung. Regisseur Hartmann setzt sich rechts außen stumm dazu. Und nach zwei Pausen und insgesamt über vier Stunden Dostojewski-Martyrium darf diese einzigartige Truppe sich noch erstaunlich lange feiern lassen