Foto: „Berlin Alexanderplatz“ am Schauspiel Köln mit (v.l.): Jonas Dumke, Fabian Reichenbach, Uwe Rohbeck, Anja Laïs, Louisa Beck, Jenny Ngamou und Leonhard Hugger © Marcel Urlaub
Text:Andreas Falentin, am 20. Dezember 2025
Am Schauspiel Köln hat Hermann Schmidt-Rahmer Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ inszeniert. Er macht die Stadt zum Protagonisten und erweitert die Stadtstimmung in den digitalen Raum. Ein erstklassiges Ensemble macht den szenischen Entwurf zum Erfolg.
Der Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer hat Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ sorgfältig und genau gelesen. Er bringt die Bauform des Buches auf die Bühne: die vom Film abgeschauten Szenen-Montagetechniken, die eingebauten Zitate von Bibel bis Werbung. Und er erweitert diese Struktur in den digitalen Raum. Berlin ist hier nicht nur ein historisches Phänomen, eine Stadt, die in wenigen Jahren um 1920 ihre Bevölkerung – und damit auch ihr Lebenstempo – verdoppelt hat. Die große Stadt heute ist immer auch digital.
Schmidt-Rahmer hat das Buch in fünf Akte und einen Prolog eingeteilt. Im „Akt 0“ erfahren wir, dass Döblins Protagonist Franz Biberkopf inhaftiert wurde, weil er eine Frau zusammengeschlagen hat. Als er entlassen wird, in die gewachsene Stadt, gerät er in eine fremde Welt: zu viel Tempo, zu viele Reize, zu viele Einflüsse. Er findet sich nicht mehr zurecht. Und die Inszenierung wechselt den Protagonisten: Es geht hier nicht um Biberkopf, einen kleinen Mann, der Frauen schlägt, die sich um ihn kümmern, und der abhängig wird vom Ganoven Reinhold – was ihn erst seinen rechten Arm und dann seine Geliebte Mieze kostet. Hier geht es um die Großstadt Berlin, sozusagen um unser Leben.
Bilder aus dem Internet
Das inszeniert Schmidt-Rahmer wie einen Internet-Scroll. Pia Maria Mackert hat ihm dazu eine schlichte Bühne gebaut: drei gelbe Rahmen, hintereinander gestaffelt. Auf die Hinterwand und teilweise auf den Boden wird projiziert, alles, was im Internet vorkommt: Elon Musk, Mark Zuckerberg, Donald Trump und immer wieder Krebse – und vieles mehr – sowie die Menschen der Romanhandlung, die auf der Bühne agieren und gleichzeitig in den digitalen Bilderstrom eingefügt werden. Man weiß nicht, wo man hinsehen soll: Es geht schnell, es hat keine Richtung.
Die Rolle Biberkopfs wird durchgewechselt: Jonas Dumke, Leonhard Hugger und Fabian Reichenbach sind Biberkopf in den Akten 1 bis 3. Erzählt wird, wie Biberkopfs Leben in Freiheit ungute Gestalt annimmt, weil er zwar selbstbewusst ist, aber nicht verantwortlich – nicht für sich selbst, nicht für andere, vor allem nicht für die Frauen. Diese werden, ein Kernpunkt von Schmidt-Rahmers Romanlesart, misshandelt, umgebracht, weggeworfen – immer wieder. Vielleicht ist Franz Biberkopf deswegen keine durchgängige Figur: weil man sie nicht ertragen könnte.
Starke Schauspieler:innen
Aus dem digitalen Gewirr schälen sich starke Schauspieler:innen heraus: Uwe Rohbeck sorgt als Engel, Prostituierter und Kumpel für gelassene Ruhepunkte im Sprachfluss. Anja Laïs (Reinhold) und Louisa Beck (Mieze) entwickeln plastische Figuren gegeneinander: der Empathielose und die Empathische. Irgendwann erlahmt der Bilderfluss. Auf der Rückwand wird der Bilderstrom – fast ein Regie-Gag – zum (Großstadt-)Sumpf: ein schlickiger, nasser Boden, hinter dem Vogelaugen sichtbar sind. Ein Gott? Der Regisseur? Die Natur?
Anja Laïs (Reinhold) und Louisa Beck (Mieze) Foto: Marcel Urlaub
Auf der Bühne ist jetzt Franziska Annekonstans Winkler Biberkopf – und sie leidet. Das Selbstbewusstsein ist geschwunden wie die Internetbilder. Er ist mit Mieze zusammen, kann aber nicht mit ihr reden, nichts erzählen, nicht Mensch sein. Deswegen geht Mieze zu Reinhold, deswegen bleibt Franz allein. Dann wird es dunkel, die Rückwand wird hochgezogen, Uwe Rohbeck ist Biberkopf im Krankenhaus, und er findet heraus, was er gewesen ist – fast eine Erkenntnis im Tod.
Rasant und riskant
„Berlin Alexanderplatz“ am Schauspiel Köln ist ein rasantes und riskantes Theaterexperiment. Sind Ströme von Internetbildern wirklich richtig für die Theaterbühne? Kann man einen bekannten Stoff erzählen ohne bekannte Hauptfigur? Taugt das Internet, um den Expressionismus nebenbei zu erklären – die neue, dunkle Endzeitstimmung, die durch Kriege ebenso ausgelöst wurde wie durch Strom, etwa durch elektronische Straßenbeleuchtung?
Es scheint zu gehen, wenn die Komponenten stimmen: etwa die fantasievollen, viel Augenfutter bietenden Kostüme von Michael Sieberock-Serafimowitsch und das erstklassige Ensemble (dazu gehören noch Jenny Ngamou, die als Franz’ Freund Herbert etwas Halt gibt, und Agnes Hestholm, die als Erzählerin den Abend einleitet und als Tod im Schlussbild – mit schwarzer Krone ohne Gesicht – diesen fast zu Ende bringt). Und weil Schmidt-Rahmer das Experiment rechtzeitig beendet, die digitalen Figuren wieder Mensch sein lässt, sie sich sogar darum sorgen lässt, was ein Mensch eigentlich ist. Also eine große Spannweite für zwei pausenlose Stunden Theater.
Das Ensemble vor der digitaen Welt. Foto: Marcel Urlaub