Oper rund ums Orchester: „Les Troyens“ in Köln

Klangraumspielwerk

Hector Berlioz: Les Troyens

Theater:Oper Köln, Premiere:24.09.2022Vorlage:AeneisAutor(in) der Vorlage:VergilRegie:Johannes ErathMusikalische Leitung:Francois-Xavier Roth

Die Sonne dieses Abends ist das Orchester. Es sitzt nicht im Graben, den gibt es ja im Kölner Staatenhaus gar nicht, es sitzt nicht rechts oder links oder aufgeteilt im Raum. Das Gürzenich-Orchester und sein Dirigent Francois-Xavier Roth sitzen,  von der Bühnenbildnerin Heike Scheele kreisrund angeordnet, im Zentrum der Bühne. Fürs Theaterspiel bleibt ein kinetischer Steg rund um die Musiker, eine Art Tribüne dahinter, ein kleiner Platz, fast ein Wohnzimmerchen links daneben. Auf der rechten Seite thronen, wie auf einer Terrasse, die von Berlioz vorgeschriebenen sechs Harfen.

Spieluhr mit Surround-Sound

Was diese Anordnung bereits vorzugeben scheint, geschieht: Die Musik dominiert die Inszenierung. Vier Stunden lang, von zwei Pausen unterbrochen, serviert Francois-Xavier Roth unermüdlich im steten Fluss gehaltenen Klangzauber, scheinbar durch keine Strukturen, keine Motive gehemmt. Und das Staatenhaus erweist sich für diesen Klangrausch als der geeignete Ort: Schattenspiele auf den Saalwänden, ausufernde Bühnenmusik von den Seiten, Chor- und Posauneneinsätze, die von hinten geradezu über die Köpfe des Publikums abgefeuert werden – so etwas ginge in einem „normalen“ Theater nicht. Und alles läuft präzise ab, wie auf Schienen, eine gewaltige Spieluhr, die zwischendurch nicht aufgezogen wird, gelassen ihre melodischen Schleifen dreht und dabei immer neue Klangfarben und -amalgame präsentiert. Da erscheint es ganz selbstverständlich, dass das Orchester während des großen Liebesduetts im vierten Akt um sich selbst zu kreisen beginnt.

Dazu wird in dieser ersten Premiere unter dem neuen Intendanten Hein Mulders auf einem Niveau gesungen wie selten in diesem Haus in den letzten Jahren. Isabelle Druet als Kassandra und Veronica Simeoni bringen kostbare Mezzosopran-Stimmen ein und sind dazu beide herausragende und sehr textverständliche Interpretinnen. Wobei Druet vor allem in der Textausdeutung brilliert und dabei unendlich viele Nuancen zwischen Sprech- und Legatogesang zeigt, während Simeoni vor allem in letzterem zuhause ist, mit leichtem Stimmsitz, feiner Phrasierung und, wo nötig, großer Expressivität. Dazu kommt mit Enea Scala ein recht junger Aeneas, der anfänglich noch ein wenig zu scheuen scheint vor der gewaltigen Aufgabe, sich aber zum Ende hin immer mehr steigert und mit seiner großen Arie mitreißt. Hervorzuheben unter den größtenteils sehr erfreulichen Darstellung der kleineren Rollen ist die Eleganz in Gesang und Spiel von Nicolas Cavallier als Didos Berater Narbal. Chor und Orchester sind ohnehin in großer Form.

Hector Berlioz erzählt in „Les Troyens“, absolut unüblich für die Mitte des 19. Jahrhunderts, keine kontinuierliche Geschichte. Ihm geht es um Gestaltung von Leidenschaft bei zwei Frauenfiguren an zwei Schauplätzen. Kassandra sagt die Einnahme Trojas voraus (durch die bekannte List mit dem trojanischen Pferd). Niemand glaubt ihr, selbst ihr Geliebter nicht. Als die Stadt eingenommen wird, fliehen einige Männe, darunter Aeneas, und Kassandra organisiert einen Massenselbstmord der Frauen. Die Witwe Dido hat auf der Flucht in einem Herrschaftsstreit Karthago gegründet, eine idyllische Stadt, die nur sich selbst lebt und sich nach außen abschottet. Sie verliebt sich in den geflüchteten Aeneas, er verlässt sie, sie bringt sich aus verschmähter Linie um. Mehr Handlung bieten diese vier Stunden nicht an, dafür aber eine schwer in den Griff zu bekommende, recht statische Tableaux-Dramaturgie.

Klug gelesen, brav inszeniert

Anders als Christoph Honoré im Mai in München ist sich der Regisseur Johannes Erath dieser Eigenheiten offenkundig bewusst. Er nutzt den Steg, um Embleme und Bildideen zu präsentieren und so die Tableaux zu rahmen, denkt Stück und Handlung, etwa in der merkwürdigen Verschränkung von Begehren und Patriotismus, nicht in die Gegenwart weiter. Gelegentlich gelingen packende Momente, etwa Kassandras Begegnung mit einem Tänzer mit Pferdekopf, bei der die doppelte Bedrohung – der Verlust der Heimat und der Jungfräulichkeit – sinnfällig Spiel wird. Oft aber regiert Beliebigkeit, auch in den Kostümen von Heike Scheele (schwarz für Troja, weiß für Karthago). Die Chorauf- und Abtritte auf dem schmalen Steg geraten langatmig. Symbole wirken wie Gleichnisse ohne Deutung. Eine wie aus einer Travestie-Show hinzuerfundene Götterschar bleibt Dekoration und nutzt sich im Lauf der vier Stunden stark ab. Sie wird an den Rändern mit der Konstellation und Handlung verzahnt – Apollo singt Hylas‘ Lied, Pluto „übernimmt“ zwei kleinere Rollen –, dazu wird viel mit Jupiters Blitz herumgespielt, was im besten Fall nett anzusehen ist. So stellt sich Johannes Eraths szenisches Arrangement keinen Moment vor die Musik. Im Gegenteil, der Regisseur überlässt der Musik den ganzen Raum und setzt ihr wenig entgegen. Der Jubel ist groß, aber nicht einhellig.