Foto: „Eine Odyssee“ an der Berliner Volksbühne © Vincenzo Laera
Text:Michael Laages, am 13. September 2019
Zu den hervorstechenden Eigenschaften der „alten“ Volksbühne und der an diesem Theater prägenden Regie-Handschriften gehörte sicherlich auch der Hang zur Penetranz. Mal mehr, mal weniger zermürbend neigten Inszenierungen zuweilen dazu, in entscheidenden Momenten auf Ideen, auf Tönen, auf Bildern und Konstellationen zu beharren – und manchmal eben bis zum Geht-nicht-mehr. Die Überschreibung der „Odyssee“, die Autor Mikael Torfason und Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson jetzt am Beginn der ersten Saison von Schauspielchef Arnarsson an der „neuen“ Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin vorlegen, stellt sich ohnehin generell und grundsätzlich in die Traditionen des aus Prinzip überbordenden Totaltheaters früherer Zeiten – hat in jedem Fall aber auch einen dieser extrem penetranten Momente.
Die junge Schauspielerin Jella Haase, in Kino-Deutschland schon weltberühmt durch „Fuck ju Göhte“ und „Heidi“, startet die Karriere auf der Theaterbühne als Sirene: Gefühlt ein halbes Jahr lang schreit sie nach „Gerechtigkeit“; nachdem sie als die schöne Helena, das Lust-Objekt, das zum Auslöser wurde für den Krieg um Troja, auf der Höhe eines lichtdurchschossenen Panzers dekorativ posierend eine Fahne schwang und von Männern konsequent missachtet wurde. Helenas Schrei übertönt noch das musikalische Inferno, das der Musiker Gabriel Cazes über die sich im Kriegsinferno drehende Bühne legt, und gellt auch noch gegen die Liste sämtlicher Kriege seit Beginn der Zeitrechnung an, die Sarah Maria Sanders als Kassandra monoton ins Mikrophon rezitiert – das Furioso hält lange an, bis gnädig das Saallicht die Pause markiert und die „Gerechtigkeit“ noch weiter tönt bis in die Umgänge des Theaters, ja bis aufs Klo.
Arnarsson hat für den Start alles aufgefahren, was das Theater (dieses Theater!) zu bieten hat. Der erste Teil ist chorisch choreographiertes und streng dirigiertes Sprechen aller Beteiligten. In mehlwurmartigen Ganzkörperkostümen übt das Ensemble zunächst verschiedene Marschtritte und rezitiert dann einige der schauerlichsten Kriegsbeschreibungen über Trojas blutigen Untergang nach dem Trick mit dem hölzernen Pferd. Dazu entfachen Gabriel Cazes sowie die Mitmusiker Damian Dlaboha und Sir Henry ein vor allem rhythmisch massives Feuerwerk; und die Eröffnung wird zum furiosen Wort-Konzert, über dem sich schließlich ein Vorhang aus miteinander verknüpften Pappkartons mit infernalen Projektionen drauf herab senkt. Die Pappkartons fallen rückwärts in die Bühne hinein, und jetzt kann die Bühne von Daniel Angermayr mehr und immer mehr zum Schlachtfeld mutieren.
Im Papp-Inferno streiten zunächst Penelope, seit zwei Jahrzehnten verlassene Gattin des Odysseus, und der schon sehr erwachsene Sohn Telemachos in recht gegenwärtigem Ton nicht nur über die suchtartige Nutzung von Video-Kriegsspielen, die im Hintergrund flimmern (danach will sich der Junge glatt erhängen). Längst sind wir hier in der Zeitgenossenschaft des Krieges angekommen. Und gleich rollt auch die Panzer-Attrappe mitten in die Pappe hinein. Helena ist jetzt im Spiel, aber auch Menelaos und dessen Bruder, der Oberkriegsstratege Agamemnon; der, den die eigene Gattin Klytemnästra im Bad erdolchte. Der Krieg um Troja ist ja auch eine Familien-Saga. Schon durchmischen sich die noch Lebenden und die schon Toten; gegen Ende steigt gar Odysseus selbst zu den Toten hinab und spricht dort (auf einer Art Totenfloß, wohl über den Acheron treibend) mit Agamemnon, Achilles und der eigenen Mutter. Sie alle sind ihm schon voraus gegangen.
Mit Teil 2 übrigens (die Schreie nach „Gerechtigkeit“ sind verstummt) wechselt die Aufführung wieder, wie schon nach dem Ritual zu Beginn, schlagartig in ein anderes Metier: Mikael Torfason lässt von „Bashir“ erzählen, dem eigenen Bruder, der als Isländer in Afghanistan kämpfte. Darüber hängen bühnenhohe Porträts der Herren Kennedy, Clinton und Trump, alle nackt und mit gerecktem Glied. Krieg, das Lieblingsspiel mächtiger Männer – Arnarsson kann auch recht derbe sein und platt. Von nun an bleibt die Aufführung bis zum Schluss sehr diskursiv, und tatsächlich wird jetzt Daniel Nerlichs Odysseus zum Zentrum sowohl politischer wie familiärer, vor allem aber hoffnungsloser Gedankenspiele. Mutter Antiklea, gespielt von Solveig Arnarsdottir und noch einmal die Penelope von Johanna Bantzer, die wie Nerlich aus Hannover mit nach Berlin kam, rücken kraftvoll in den Fokus. „Das ist mein Land!“ – das ist Penelopes letztes Wort. Wo Männer die Welt verwüsten, werden Frauen regieren; spätestens dann.
Arnarsson zeigt viele eigene Ziele am Start des eigenen Weges als Schauspielchef an diesem außergewöhnlichen Theater; die Aufführung ist vor allem unterwegs und driftet hierhin und dorthin, immer in Entwicklung, hin und her zwischen verschiedensten Spiel-Stilen. Aus einem Guss ist sie sicher nicht, sie verliert und verzettelt sich zuweilen in Details, verfolgt aber durchaus den zentralen Gedanken: Die Geschichte aller Kriege zu erzählen in Bildern von diesem einen um Troja, der eben doch nicht der Krieg war, der alle Kriege beendete. Im Gegenteil: Er fand immer wieder statt in der Geschichte, und kein Ende ist absehbar. Außer eben das der finalen Vernichtung von allen und allem – die verrückten Weltenlenker von heute haben wenig Angst vor der Apokalypse. „Eine Odyssee“ zeigt den Weg auch dahin.