Foto: Das Ensemble weiß nicht, was auf es zukommt. © Marian Lenhard
Text:Wolfgang Reitzammer, am 20. September 2025
Das ETA Hoffmann Theater Bamberg bringt Franz Kafka auf die Bühne. „Kafkas Erzählungen“, inszeniert Regisseur Jasper Brandis, basiert auf fünf Prosatexten des Autors. Die Rahmenhandlung setzt der Text „Brief an den Vater“, der Kafkas Leben unter Fremdbestimmung schildert. Eine schlüssige Perspektive, die im Stück zeitweise verloren geht.
Tausende von Schüler:innen – vornehmlich der gymnasialen Oberstufe – haben sich mit den Texten von Franz Kafka auseinandersetzen müssen. Sie haben sich bei der „Verwandlung“ und bei der Foltermaschine in der „Strafkolonie“ gegruselt, haben über den tieferen Sinn von „Vor dem Gesetz“ gegrübelt. Sie haben gewagte Textanalysen zu „Gib’s auf“ geschrieben und beim „Brief an den Vater“ möglicherweise an das eigene Familienoberhaupt gedacht. Danach ist vielleicht noch Zeit für ein Biopic über die vielfältigen Leiden des jungen Herrn K. und eventuell für eine entspannte Bühnen-Adaption?
Eigentlich wollte John von Düffel zu Beginn seiner Intendanz und der Spielzeit 2025/2026 dem Bamberger Publikum „Hoffmanns Erzählungen“ (nach Jacques Offenbach) präsentieren, hat sich dann aber für ein lange gehegtes Projekt entschieden: „Kafkas Erzählungen“. Dahinter verbirgt sich nun kein gelbes Reclam-Bändchen, sondern eine kenntnisreich konstruierte Szenenfolge, gespeist aus Kafkas Prosatexten „Brief an den Vater“, „Das Urteil“, „Die Verwandlung“, „Josefine, die Sängerin“ und „Der große Schwimmer“. Schon seit geraumer Zeit hat auch das Theater die dramaturgischen Potenziale von Kafkas Geschichten erkannt, und für von Düffel war es wohl ein Herzensanliegen, den Kosmos des Säulenheiligen der literarischen Moderne in den poetischen Raum der Bühne zu bringen.
Kafkas Entscheidungsangst
Eingerichtet hat das Ganze der neue Bamberger Hausregisseur Jasper Brandis. Sieben Schauspieler:innen (Hermia Gerdes, Laura Rösler, Leon Tölle, Stephan Ullrich, Florian Walter, Daniel Warland und Barbara Wurster) schlüpfen im Lauf des Abends mit heftigen Kostümwechseln in die verschiedenen Rollen oder tragen in Wechselrede bzw. chorischer Interaktion die Bekenntnisse des Ich-Erzählers vor.
Es beginnt fulminant mit einer beeindruckenden musikalisch unterlegten (Sebastian Herzfeld) Choreografie für fünf sprechende Umkleidekabinen im Prager Flussbad an der Moldau (Ausstattung: Anna Siegrot). Aus deren geschützter Umgebung will sich der junge Kafka gar nicht ins Freie wagen – Diagnose: ödipales Body-Shaming. Damit ist auch das zentrale Motiv gesetzt: die Minderwertigkeitskomplexe angesichts eines übermächtigen und wohl auch übergriffigen Vaters, dem Inhaber eines Geschäfts für Mode und Kurzwaren, Hermann Kafka. Oder anders formuliert: die Angst des Schwimmers vor dem Ertrinken, die Angst vor „erwachsenen“ Entscheidungen (Berufswahl, Familiengründung).
Kafkas Groteske
Diese schlüssige Perspektive kann der Theaterabend jedoch nicht ganz durchhalten, denn mit dem Auftauchen der (ganz und gar nicht kahlen) Sängerin Josefine, die als Wallfahrts-Monstranz mit Chiffon-Umhang von zwei Schauspielerinnen in die Szene getragen wird, kommen sachfremde Bezüge ins muntere Spiel. Auch die Szenen aus der „Verwandlung“ erinnern eher an absurdes Theater, sind mehr Groteske als Kafkaeseske. Die eingeblendeten Elemente aus dem Figurentheater sind manchmal sehr bildstark (etwa das gefaltete Handtuch im Schwimmbad), manchmal aber auch nur rätselhaft (die Riesennase, hinter der sich verschiedene Personen verstecken). Erst als der Kopf der Sängerin unter den Teppich gekehrt wird und das Ungeziefer Gregor Samsa krepiert, sind wir mit dem Urteil des strengen Vaters wieder im Rahmen: „Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!“
In diesem Augenblick ging – wie wir vermuten – über die Bamberger Regnitz-Brücke ein geradezu unendlicher Touristen-Verkehr – und langanhaltender Beifall des Publikums setzte im Theater ein. Der Kritiker aber legte sein Gesicht auf die Brüstung und verfiel in einen schweren Traum. Man darf jedoch auf jeden Fall gespannt sein, was John von Düffel in dieser Saison noch zu erzählen hat!