Foto: Scott Hendricks als Titel"held" in der Uraufführung "M - Eine Stadt sucht einen Mörder" an der Komischen Oper © Monika Rittershaus
Text:Roland H. Dippel, am 6. Mai 2019
Moritz Eggert, Jahrgang 1965, ist nicht nur Komponist und Festivalleiter, sondern auch als schlagfertiger Musikjournalist im ständigen Einsatz gegen die Überalterung der Opernspielpläne und für den demographischen Wandel in Sachen Neue Musik. Diese will er aus dem elitären Kultursegment herauskicken und in mehr pulsierenden Kanälen verankern.
Selbst wenn nach 110 Minuten beim Erscheinen des Komponisten der Applaus vom Siedepunkt etwas herunterkühlt und von einem Buh verunziert wird: Bei „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ handelt es sich um einen großen, verdienten Erfolg, den Eggert nur einen Abend nach der Uraufführung seiner Musik für Winnie Karnofkas Theaterstück „Mädchenmonstermusik [15 plus].Clara Schumann Wunderkind“ im Theater der Jungen Welt Leipzig erntet. Mit alten Sujets arbeitet Eggert also an der Popularisierung der Neuen Musik: Die Klaviervirtuosin wird 2019 anlässlich ihres 200. Geburtstags mit Ehren überschüttet und der Film Fritz Langs und Theas von Harbou, einer der ersten deutschen und mit einer erstaunlichen Sound-Kulisse unterlegten deutschen Tonfilme, stammt aus dem Jahr 1931. Aber Opernmacher habwen sich ja schon immer auf alte Stoffe gestürzt. Im Vergleich zuweitaus spröder komponierten Partituren wie Henzes „Phädra“ oder Reimanns „Medea“ (an der Komischen Oper 2017) wirken Eggerts Werke fast immer durch bezwingende musiktheatrale Jungenhaftigkeit.
In Musik und Text ist es Eggert und dem inszenierenden, gemeinsam mit Ulrich Lenz auch für das Libretto verantwortlichen Intendanten Barrie Kosky hervorragend gelungen, viele dramatische und klangsemantische Bezüge dieses frühen Tonfilms aufzugreifen und auch aus einer ganz anderen Perspektive des Erzählens und der Wiedergabe zu agieren. Böse Kinderreime und expressionistisch bänkelsängerhafte Gedichte von Walter Mehring (1896-1961) kommen als Zäsuren zum Einsatz, wo die Scharniere der Veroperung sonst zu versagen drohen. Anstelle der jagenden, von der Polizei und ihren eigenen Ängsten angetriebenen Massen steht „M – der Mörder“ im Zentrum der Partitur.
Bewahrt wird in der Komischen Oper Berlin das Fluidum des Gefährlichen, Nebulösen, Tabuisierten: M ist eine Figur mit Zügen der in der Weimarer Republik auftauchenden und in spektakulären Prozessen gerichteten Massenmörder Fritz Haarmann, Peter Kürten, Karl Großmann und Karl Denke. Die mit kalkuliertem Furor aufgekochte Musik macht vergessen, dass die Frage nach Schuld, Schuldfähigkeit und Bestrafung ein zentrales Thema sein soll. Doch es wird deutlich, dass es um den Menschen M und sein Innenleben geht. Ungewiss bleibt dagegen, ob die Begebenheiten der Jagd und des Schreckens Ms Phantasien entspringen, auf erlebten Begebenheiten beruhen oder die Bewältigung eines nicht thematisierten Traumas sind.
Der baumhohe Bariton Scott Hendricks mit überdies elektroakustisch verstärkter Riesenstimme nimmt sich hier aus wie ein Gulliver im Lande Liliput mit von Kindern gespielten Erwachsenen. Aber anders als in einem Projektcamp, in dem Kinder eine möglichst ideale Erwachsenengesellschaft spielen, jagt und zersetzt sich eine urbane Gesellschaft im Ausnahmezustand: Misstrauen, Schrecken, das Erliegen von Arbeitsprozessen. Die über 60 Mitglieder des Kinderchors (bravourös einstudiert von Dagmar Fiebach und David Cavelius) sind, beflügelt und skandierend attackiert von hinter der Bühne agierenden Studierenden und Absolventen der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ (Emilia Giertler, Noëlle Haesling, Laura Kiehne, Max Haase, Jan Eric Meier, Daniel Warland), die Stars dieser Produktion. Gestützt werden sie von Sängerinnen und Sängern des Opernstudios der Komischen Oper und des Vocalconsorts Berlin.
Klaus Grünberg und Anne Kuhn haben das Portal der Bühne mit einem weißen Rahmen verdeckt. Auf einem Podest definieren lange Paravents die Spielfläche als öffentliche Räume mit Polizeistation. M selbst sitzt davor auf einem für ihn viel zu kleinen Kinderstuhl mit Kindertisch. Diese Sphäre ist eng, der Abstand Ms zu dem so fernen und von ihm doch in irgendeiner Form Begehrten riesig. Ein Mann unter Trollen, der das Liedchen vom Bi-Ba-Butzemann herausdröhnt und wie im Film von dem orgiastischen Motiv aus der Halle des Bergkönigs in Edvard Griegs „Peer Gynt“-Musik getrieben wird. Katrin Kath hat M in Jeans und Polohemd gesteckt, während alle anderen Zeitloses mit Anklängen an das Berlin der legendären Zwanziger Jahren tragen.
Barrie Kosky zeigt die Sprengkraft plakativ entfesselter Emotionen. Moritz Eggert fordert vom Orchester der Komischen Oper und seinem diesem am Ende mit einem emphatischen Kniefall dankenden Chef Ainārs Rubiķis alles. In den durch Verstärkung noch größeren Lautstärken gibt es knackende Zäsuren und kurzes Innehalten, Geräuscheffekte und a-cappella-Stellen zuhauf. Doch gleich brausen erneut rauschende und die Hintergrund-Solostimmen von Alma Sadé und Tansel Akzeybek mit verschwenderischer Dezibel-Fülle umwogende Klangmassen auf. Ein tönender Schwall kurz vor der amorphen Implosion ist das. Beim Hören macht das durch Masse und Fülle gewaltigen Eindruck – wie ein in raffinierter Beleuchtung reflektierender Rieseneiswürfel im Cocktailglas. Doch man hört auch das Risiko auditiver Überfütterung mit: Schmilzt das Eis im Glas, wird die Farbe des Longdrinks dünner. Als Vorbereitung für die abstruse Erwachsenenexistenz hat Eggerts „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ allerdings hundertprozentige Daseinsberechtigung, auch, weil dieses Songspiel auf spannende Weise die oft durch Zielgruppenorientierung errichtete Barriere zwischen jugendlichen und reiferen Operngängern zum Einsturz bringt.