Vermeintlich sicheres Zuhause

Stanislava Jević, Klaus Schumacher: Anybody Home

Theater:Junges SchauSpielHaus Hamburg, Premiere:20.09.2025 (UA)Regie:Klaus Schumacher

Das World Wide Web ist ein Universum. Wer zu tief in die unendlichen Weiten vordringt, findet den Weg zurück in die Wirklichkeit nicht mehr. Von dieser Art Verlust und Varianten des Verloren-Seins erzählt „Anybody Home“ am Jungen Schauspielhaus Hamburg.

Seraphin war 13, als die Pandemie ihr Leben stilllegte. Was davon noch übrig blieb, fand virtuell statt. Fünf Jahre später ist sie ihrer Familie völlig abhanden gekommen: Sie verlässt ihr Zimmer nicht mehr, verweigert jeglichen direkten menschlichen Kontakt und flieht per VR-Brille zu ihrer eigens kreierten KI-Geliebten an einen Fantasie-Ort.

Ihre Zwillingsschwester Alma leidet besonders unter diesem Rückzug. Auch der jüngere Bruder Matteo reagiert zunehmend verstört auf Seraphins Abwesenheit. Der Vater hingegen bewertet das auffällige Verhalten als verrückte Teenager-Macke, und die Mutter der drei Kinder ist zu oft abwesend, um die fatale Entwicklung verfolgen zu können. Allein Almas Freund, fast ein Familienmitglied, wagt es mit dem Blick von außen, den Finger in die Wunde zu legen.

Eine Familiengeschichte

Die Geschichte beginnt 2025, im Hier und Jetzt, kurz vor dem 18. Geburtstag der beiden Zwillingsschwestern. Ausnahmsweise nimmt sich Mutter Judith eine Auszeit von ihrer Arbeit als Fotoreporterin und  Kriegsberichterstatterin. Vater Jakob ist zwar körperlich anwesend, predigt indes als überzeugter Christ täglich viele Stunden vor dem Bildschirm zu Menschen in aller Welt. Auf Alma, der handfesten Schwester, liegt die Verantwortung, ein Stück Familiennormalität aufrecht zu erhalten und sich um den kleinen Bruder zu kümmern. Damit ist sie überfordert, und aus dieser Situation will ihr Freund sie befreien.

Anastasia Lara Heller. Foto: Sinje Hasheider

Alle Fünf hoffen natürlich, dass Seraphin an diesem besonderen Geburtstag ausnahmsweise ihr Zimmer verlassen wird, um mit ihrer Familie zu feiern. Tatsächlich taucht sie mitten in den Vorbereitungen zum Fest auf. Doch ist es unmöglich, zur Geburtstagesordnung überzugehen – der große Knall ist unvermeidlich …

Ein Text über eine Eltern-Kind Beziehung

Stanislava Jević, Dramaturgin und Autorin, und der Künstlerische Leiter des Jungen Schauspielhauses Hamburg, Klaus Schumacher, haben gemeinsam einen Text geschrieben, der das Problem auf den Punkt bringt: Über die Arbeit in ihren durchaus wichtigen Berufen haben beide Elternteile ihre Kinder verloren – Seraphin ans Internet, Alma an eine Rolle, der sie nicht gewachsen ist, und Matteo an die Bilder in seinem Kopf, die er nicht mehr loswird und doch vor allen geheimhält. „Ihr wart nicht da!“ schreit Seraphin ihre Eltern an; die würden zunächst gern zu ihrem Verständnis von Alltag zurückkehren. Doch dann verstehen sie, dass sie nicht hinschauten, versäumten zuzuhören und keine Ahnung haben, was in ihren Kinder vorgeht.

Der Epilog spielt – wie der kurze Prolog – im Jahr 2032: Die Zwillinge sind 25 Jahre alt, und alle Sechs sind noch einmal davongekommen. In der konkreten Bedeutung, denn alle haben den Brand jenes Hauses überlebt, das offenbar ohnehin niemandem Schutz bieten konnten; und im übertragenen Sinn, da sie als Familie nicht auseinander fielen. Katrin Plötzkys Bühnenbild – die äußerlich schwarz verkohlten Reste eines zweistöckigen, rundum einsehbaren Hauses – ist eine klare Metapher für ein Zuhause, in dem man sich irrtümlich sicher wähnt. Live-Musik von Jan S. Beyer unterstützt die atmosphärischen Wechsel ideal. Die beiden Neuzugänge im Ensemble, Victoria Kraft und Silvio Kretschmer, verbinden sich mit den vier anderen Mitgliedern zu einem organisch spielenden Team. Im gemeinsamen Gesang finden sich alle zu Gänsehaut-Momenten zusammen.

Standing Ovations gab’s für das 90-minütige, aufwühlende, kurzweilige Stück, das Jugendliche ab 14 Jahre abholt. Ein gelungener Auftakt zur Jubiläumssaison 20 Jahre Junges Schauspielhaus Hamburg.