Foto: Szene mit Benjamin Lillie © Orpheas Emirzas
Text:Bettina Schulte, am 17. September 2022
Das Versprechen „magischer Momente“ versetzt das kritische Gemüt in Alarmstimmung. Selbst wenn es vom ungemein freundlichen Co-Intendanten des Züricher Schauspiels Benjamin von Blomberg kommt, der in einem Werbeblock vor der Premiere („Wir wollen, wir müssen unbedingt für Sie spielen“) mitteilen musste, dass das Ensemble wegen eines Bühnenunfalls von Thomas Wodianka sehr kurzfristig von vier auf drei Spielende reduziert wurde. Was einem vermutlich gar nicht aufgefallen wäre.
Der magische Moment
Aber dann hat er sich wirklich ereignet, der zauberische Augenblick der Verwandlung, wie er einem so nur auf dem Theater zustoßen kann: Die baumlangen Bretter von Peter Baurs genialer Bühne im Schiffbau werden an Stahlseilen in die Vertikale gehoben, unter den Bohlen wird Erdiges freigelegt, Vögel zwitschern, ein Kuckuck ruft, durch die großen Fenster der ehemaligen Maschinenhalle fällt goldenes Licht auf die Szene: Wir – Zuschauende wie Darstellende – sind von einer kahlen leeren Fläche, einem städtischen Platz vielleicht, in einen geheimnisvollen Wald versetzt. Dazu singt der Schauspieler Benjamin Lillie, wie ein Popstar ausgestattet mit einem Phantasiegewand und langem Haar (Kostüme: Ulf Brauner) mit brachialer Mikrofonverstärkung einen Rocksong: eine Erscheinung wie aus einer anderen Welt. Die Stadt, verkündet er, erbebe gerade von 1000 Rehhufen. Man stelle sich vor! It’s magic!
Christopher Rüping ist auf Ali Abbasis Film „Border“ gestoßen, ein ungewöhnlicher Mix aus Realismus und Fantasy, der 2018 in Cannes die Auszeichnung in der Reihe „Un Certain Regard“ gewonnen hat. Darin geht es um eine schwedische Zollbeamtin, die mit einer besonderen Fähigkeit ausgestattet ist: Sie kann Schmuggler olfaktorisch überführen. Auch sonst ist sie ein seltsames Wesen: Mit deformiertem Gesicht lebt sie im Wald. Bis sie eines Tages auf einen Gleichgesinnten trifft. Das klingt wie ein Märchen und ist es auch. Aber wie Rüping und sein Team den Stoff anpacken, das geht weit über ein märchenhaftes Setting hinaus. „Border“: Der Titel ist Programm auf mehreren Ebenen: Da ist die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Theater und Leben, zwischen denen, die dazu- und denen, die nicht dazugehören.
Zwischen Fiktion und realem Setting
Wiebke Mollenhauer ist in Rüpings Inszenierung jene Tina, die ihren Ort in der Gesellschaft nicht finden kann. Aus dem Publikum ruft Maja Beckmann sie auf die Bühne: eine androgyne Gestalt, bleich, mit strähnigen Haaren, wortkarg bis zum Schweigen. Und damit das Gegenteil von Beckmanns Plaudertasche: Beckmann spielt Beckmann, sie erzählt, dass sie nach drei Jahren Zürich jetzt zurückgeht nach Hamburg: Sie habe sich von der Stadt nicht angenommen gefühlt. Auch außerhalb gewohnt, in Witikon, nahe am Wald. In der Nachbarschaft zu Tina eben. Und hier gleitet das reale Setting unweigerlich in die Imagination hinüber. Charlie, Maja Beckmanns Kind, sei ihr plötzlich abhanden gekommen.
Und so stülpt sich machtvoll die Fiktion über Beckmanns lustige „Abschiedsvorstellung“ – und mit ihr gewinnt die blasse Figur der Tina zunehmend an Macht und Freiheit. Wer sie sei, fragt sie den Mann, den sie als Elf identifiziert. Und er spricht ihr eine neue Identität zu: „Du bist ein Troll“ Welche Verwandlung bei Wiebke Mollenhauer das auslöst: Auch das ist ein magischer Moment. Sie tobt, schreit, grimassiert ins Publikum: „Ich bin ein Troll!“ Aber Trolle gibt es doch nicht?
Die Geschichte, die Lillie ihr dann erzählt, ist eine Geschichte von brutaler Ausgrenzung und erzwungener Anpassung. Eine Geschichte, wie zu allen Zeiten Menschen Grenzen zwischen sich und den anderen markiert haben. Kann das Theater Grenzen niederreißen? Es kann sie zumindest bewusst machen. Das gelingt Christopher Rüping mit diesem sehr besonderen Abend in ganz ungewöhnlicher Weise. Mit märchenhaften Mitteln. Und – natürlich – mit grandiosen Schauspielern. Diese drei sind eine Klasse für sich.