Foto: "Das kleine Schwarze/The riot of spring" am Badischen Staatstheater. Harriet Mills (Misia Sert), Bruna Andrade (Coco Chanel) © Jochen Klenk
Text:Björn Hayer, am 15. November 2015
Es ist eine Zeit der Widersprüche: Aufbruchs- und Untergangsstimmung zeichnen das Gefühlstableau des Paris der 20er Jahre, das just in der Uraufführung „Das kleine Schwarze / The Riot of Spring“ am Karlsruher Staatstheater noch einmal aufersteht. Nachdem die Ouvertüre mit einem von Goldregen begleiteten Walzertanz einsetzt, tönen von Ferne schon die Schüsse des ersten Weltkriegs, der sodann ein wenig zu plakativ mit bewaffneten Soldaten in den Salon vordringt.
Danach greift das Ballett wahrlich nach den Sternen. Zunächst sehen wir Coco Chanel, mit Noblesse und Feinsinn verkörpert von Bruna Andrade. Einmal tritt sie in ein sanftes Spiel mit lebendigen Puppen ein, entdeckt ihre Form des weiblichen Körpers, den bald das „Kleine Schwarze“ nicht nur zieren, sondern auch zu politischem Format verhelfen soll. Ein andermal schwebt sie durch eine Gruppe von Paartänzern, wobei sie sich dem männlichen Pendant entzieht. Um die (modische) Emanzipation der Frau auf die Bühne zu holen, setzt der Choreograf und Regisseur Terence Kohler auf eindringliche und klare Gesten, die umso wirkungsstärker sind.
Chanel ist die femme mysterieus, die sich bekanntermaßen nur einem nicht entzieht: Igor Strawinsky (Ed Louzardo). Bevor der Zuschauer mit dem zweiten Akt in Entstehungsprozess und Darbietung seines „Le Sacre du Printemps“ eintritt, hören wir bereits „Ragtime“ und „Apollon musagète“ von ihm, arrangiert in einer stimmigen Mixtur von Alfred Schmittke und John Stephan Zamecnik. Nun geht das Spiel aus Liebe, Kreation und Körperlichkeit in ein bilderstarkes Spektakel des menschlichen Geistes über. Igor Strawinsky verschmilzt in wahnhafter Gebärde mit seinem Klavier. Ein gewaltiges Werk ist im Begriff zu werden. Eine erste Szene bringt ein eng an die Choreographie der Uraufführung von 1913 angelegtes Tanzarrangement auf die Bühne: Heidnische Tänzer umringen eine Jungfrau (Su-Jung Lim), die sich zu Tode tanzt. Auf die modernisierte Retrospektive folgt sodann das großartige Finale.
Inzwischen wird der Komponist nicht mehr von einem „Geist der Zeit“ – eine schwarze Figur, die als Erzähler durch die gesamte Inszenierung führt – befallen. Nein, nun werden wir jener Kraft im Plural gewahr. Wie Dämonen winden sie sich um das schaffende Subjekt, schieben weiße Stehlen auf die Bühne, stellen sie auf, um sie schließlich wieder einstürzen zu lassen. Am Ende dieser sowohl die Irrungen als auch Visionen jener Epoche umfassenden Bühnenkonstruktion ragt ein Monolith in der Mitte des Parketts hervor. Strawinsky setzt die letzte Note auf die Partitur, heftet sie an, und springt als der große Schöpfer auf den kippenden Stein. Ein solches Szenario erübrigt alle Lobesworte, welche dieser einzigartigen Inszenierung ohnehin nicht gerecht würden. Chapeau, in Karlsruhe ist ein Meisterwerk entstanden!