Foto: Claudio Gatzke, Lavinia Nowak, Frank Genser in "Faust" am Wiener Volkstheater © Franzi Kreis
Text:Christina Kaindl-Hönig, am 25. September 2022
„Grüß Gott!“, ruft der Direktor im Nadelstreif von der Bühnenrampe ins Publikum. An seiner Seite ein Fotograf, der ihn und den pikierten Dramatiker und vor allem die Zuschauenden x-fach ablichtet. Unter Gelächter erkennen sie sich auf den sogleich riesig projizierten Fotos im Zentrum der Bühne im Wiener Volkstheater wieder, die zum metaphorischen Spiegel wird. In diesem launigen „Vorspiel auf dem Theater“ wird gleichsam das Leitmedium – die Fotografie – präsentiert, das Regisseur und Volkstheater-Intendant Kay Voges als dominantes Erzählmittel für seine Inszenierung von Johann Wolfgang von Goethes „Faust“ wählte. Zu den lautstarken Klängen von Carl Orffs „Carmina Burana“ beginnt die Drehbühne zu rotieren: Auf ihr steht ein geschlossener, eingeschossiger Wohnkubus, dessen Herz eine rot erleuchtete Dunkelkammer bildet (Bühne: Michael Sieberock-Serafimowitsch).
„Scheiße!“, ruft der Cowboy mit weißen Flügeln, als er im dichten Nebel stolpert. Vier Mal muss Frank Gensers verzweifelter Erzengel Mephisto rufen, ehe Lavinia Novak mit rot-schwarzem Gefieder am Rücken aus der Unterbühne aufsteigt, um als depressiv-genervter Teufel mit Gott, einer lachenden Frauenstimme in Gestalt einer roten Kugel, die Wette um Faust abzuschließen: ein Intellektueller mittleren Alters mit Bauchansatz im dunklen Anzug (Kostüm: Mona Ulrich) und grauem Strubbelhaar, der die „New York Times“ liest und das Weltgeschehen in Zeitungsausschnitten auf einer Pinnwand festhält.
Wie bei einem Vortrag steht Andreas Beck als ausgebrannter, durch Lebensekel ernüchterter Faust mit Mikro an der Bühnenrampe, um am Ende seiner Weisheit den Erdgeist anzurufen. In Gestalt eines Dienstmädchens (Gitte Levin) wird er ihm auch das gewünschte Gift reichen, ehe ihn anstelle von Goethes Osterglocken der Talk-Talk-Song „Wealth“ aus seinem Selbstmord-Delirium rettet.
Zersplitterte Identitäten
Da vervierfacht sich seine Figur: Auf zahlreichen Fotos aus dem Inneren des Bühnenkubus‘, die synchron auf die darüber liegende Leinwand projiziert werden, sieht man nicht nur einen etwas jüngeren Faust (Frank Genser) bei einer blutigen Rasur, sondern auch Gestalten, die Becks Kopf tragen: Denn „zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, heißt es ja im „Frühlingsspaziergang“, den der jugendliche Faust (Claudio Gatzke) ebenso rasant durchmisst, wie er den Pakt mit dem Teufel schließt (Uwe Robeck im goldenen Anzug) und Margarethe (vierfach verkörpert von Hasti Molavian, Lavinia Novak, Gitte Reppin, Friederike Tiefenbacher) erobert.
Faust, Mephisto, Gretchen – sie alle erscheinen, mehrfach besetzt, als multiple, von inneren Konflikten traktierte Persönlichkeiten, als vielfache Abbilder einer Figur im Bann der medialen Bilderflut, worin die Menschen sich selbst und einander verlieren. Sie existieren in einer paillettenglitzernden, Koks konsumierenden und von Sex getriebenen Partygesellschaft, die sich selbst feiert – davon erzählen die Fotos des Werbe- und Theaterfotografen Marcel Urlaub, der die abgelichteten Szenen live projiziert. Doch verlustig geht trotz dieser interessanten These das Drama selbst in einem zweistündigen, oberflächlichen Schnelldurchlauf: In der unvermittelten Mischung aus naturalistischen, physisch exaltierten und episierend verfremdenden Darstellungsweisen kommen die Darsteller*innen nie in ein gemeinsames Spiel. Fotos und Szenen verschmelzen zu keiner Synthese, die erst eine theatralische Metaebene erzeugte.
Zusammengestrichen
Den Text mit groben Strichen bis zur Unkenntlichkeit auf Handlungsfragmente reduziert, fehlen „Faust“ in Voges‘ Thesentheater neben einigen Figuren und durch Fotos ersetzte Szenen vor allem auch jene Diskurse, die das Drama im Inneren zusammenhalten und sowohl den Figuren glaubwürdige, plastische Gestalt als auch den Gedanken Tiefe verleihen. Auf die Liebestragödie zwischen Faust und Gretchen fokussiert, reduziert Voges die Tragödie auf das Private und die innere Befindlichkeit, ohne das gesellschaftliche Herrschaftsgefüge zu vermitteln, das Gretchens Verhältnis zu Faust, aber auch ihren tödlichen Wahn bestimmt. Als sich die Mutter (Friederike Tiefenbacher) drohend im Sarg aufbäumt, den Gretchen verzweifelt vor sich herschiebt, kippt die szenisch zerbröselnde Inszenierung ins Groteske.
Politik, Kunst- und Gesellschaftsfragen bleiben auch im zweiten, fast gänzlich gestrichenen Teil der Tragödie ausgespart, der lediglich bebildert wird. Am Ende wird der greise, erblindete, aber geläuterte Faust recht moralisierend mit weiß verbundenen Augen an seinen Armen vom Ensemble in den Bühnenhimmel hochgezogen, erfüllt vom Vorgefühl des höchsten Glücks, das ihm zu finden nie gelang. Glücklos blieb leider auch das Theater: „In bunten Bildern wenig Klarheit, viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit“, wie es bei Goethe heißt.