Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Barbara Frey, Nina Hoss

Hoch in den Abgrund

Fjodor Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch

Theater:Ruhrtriennale, PACT Zollverein Essen, Premiere:20.09.2023Regie:Barbara Frey

Intendantin Barbara Frey erfüllt sich mit der ihre Intendanz abschließenden Inszenierung von Fjodor Dostojewskis „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch” einen Wunsch. Auf der Bühne bringt Nina Hoss, die zuletzt in „Tár” unter der Regie von Todd Fields gemeinsam mit Cate Blanchet zu sehen war, Dostojewskis Gedanken zum Brodeln.

„Treten Sie näher”, ertönt Nina Hoss’ Stimme aus einem flackernden, alten Fernseher, „wittern Sie die Schmach der Anpassung und genießen Sie den Aufstieg.” Und dann geht es geordnet in einer Reihe am Geländer entlang durch die Innereien der Kohlenmischanlage auf Pact Zollverein nicht etwa hinab ins Kellerloch, sondern durch Industrieschächte und über steile Treppen immer weiter nach oben in Dostojewskis intellektuelle Höhen. Auf dem Weg gibt es Schleim, Nebel, tropfendes Wasser, Dröhnen und Grunzen (Bühne: Bettina Meyer, Sound Design: Alex Silva). Es ist, als würde man zu Gollum in die Höhle steigen, zu dieser abgründigen Kreatur, die sich zwischen Fantasie und Realität bewegt.

Oben angekommen steigt Nina Hoss über eine Stahltreppe hinab in den Bühnenraum, bückt sich und linst erstmal durch das Geländer. Es ist ein erster Kontakt zum Publikum, das die nächsten anderthalb Stunden ihren stillen Dialogpartner darstellen wird. Auf einem langen Gitterlaufsteg, der Bühne, wandelt sie dann als Kreatur hin und her und packt die Zuschauer:innen mit durchdringenden Blicken. Am einen Ende des Stegs steht ein Sessel, darum herum verstreut eins, zwei, drei Wodkagläser und im Hintergrund ein leerer Vogelkäfig mit offener Tür.

Sinnlich spürbarer Wortteig

Diese Kreatur, die da im Kellerloch haust – „mit Freude an der Provokation und Chuzpe” wie Hoss sie im Vorgespräch beschreibt – stellt herausfordernd das Menschsein infrage. Schon zum zweiten Mal, nach Dmitri Tcherniakovs Inszenierung der Oper „Aus einem Totenhaus”, begibt sich die Ruhrtriennale gemeinsam mit dem Publikum in Fjodor Dostojewskis menschliche Abgründe. Der Monolog kritisiert Jean-Jacques Rousseaus „homme de la nature et de la vérité”, den Menschen also, der an Naturgesetzmäßigkeiten und die Wissenschaft glaubt, den „tätigen” Menschen, mit angeborener Dummheit. Im Gegensatz dazu sei das Bewusstsein eine Krankheit: Umso mehr Bewusstsein, desto beschränkter im Tun, umso mehr ein Mensch nicht kenne/wisse, desto mehr leide er. Hoss knetet diesen sinnlich spürbaren Wortteig aus menschlichen Lasten aber auch Unbedeutsamkeiten genauso schwelgerisch wie boshaft.

Ganzkörpererfahrung

Wie sehr ist das Leben determiniert und wie viel beschränkt sich ein Mensch selbst? „Wenn ich doch nur aus Faulheit untätig wäre”, spricht Hoss. Sie selbst ist der freigelassene Vogel, der es doch nicht aus dem Käfig schafft und dafür reicht der leere Vogelkäfig mit offener Tür als Symbol der schlichten Requisite. Und trotzdem liegt in all diesem geistigen und physischen Schmerz ein Genuss am Leiden, den das hörbare Stöhnen erst ausdrückt. In diesem Wissen, nie eine vollkommene Freiheit zu erreichen, wird der Mensch erst irre: „Man weiss alles – und dann kommt der Wunschvogel geflogen.” 

Dostojewskis Kreatur existiert nicht ohne eine Bühne und ein Publikum, vor dem sie ihren Monolog vorträgt. Frey macht ihre Inszenierung zu einer Ganzkörpererfahrung und das ist so anstrengend wie auch packend und witzig. Hoss hält die durchdringende Spannung bis zum Schluss – und entlässt die Zuschauer:innen hinterher erlösend aus der Kohlenmischanlage raus zurück in ihr eigenes inneres Kellerloch.