„Pirsch“ in der Uraufführung am Deutschen Theater Göttingen

Hinter dem Text versteckt

Ivana Sokola: Pirsch

Theater:Deutsches Theater Göttingen, Premiere:29.01.2023 (UA)Regie:Christina Gegenbauer

„Auf, auf zum fröhlichen Jagen“ stimmt der Chor der Hunde – oder vielleicht auch junger Männer – zu Beginn an, mitten in einem Wald aus Gummiband-Parallelogrammen, der von der Bühnendecke zum Boden wächst. Freundlich sehen sie nicht aus, freundlich sieht hier überhaupt gar nichts aus. Nicht die Flammen, die auf den Wald projiziert werden, während einer der Mannhunde vom ewig brennenden Krater von Derweze erzählt, den man auch „Das Tor zur Hölle“ nennt. Nicht Marinka – gespielt von einer Stück für Stück zerfallenden Mirjam Rast – die nach 15 Jahren in ihr Heimatdorf zurückkehrt, um Gerechtigkeit für einen sexuellen Missbrauch einzufordern, der ihr auf dem Dorffest widerfahren ist. Nicht Lenke (Judith Stößenreuter), die mit hartem Gesicht erklärt, Beweise dafür gäbe es nicht. Nur Jan (Lukas Beeler), Marinkas Bruder, der wirkt freundlich, als er ihr erklärt, sie hätte den Vorfall auf dem Dorffest vermutlich nur geträumt.

Wald aus Gummibändern

Ivana Sokola hat mit „Pirsch“ 2022 den Preis des Heidelberger Stückemarktes gewonnen, am Deutschen Theater Göttingen hat nun Christina Gegenbauer die Uraufführung als labyrinthisches Spiel in einem trügerisch-minimalistischen Bühnenbild (Frank Albert) inszeniert. Wald, Fest, alle diese Orte sind diese nur halb durchschaubaren, von der Decke heruntergezogenen Gummibänder, mal grün beleuchtet, mal bunt. Die Darsteller und Darstellerinnen verfangen sich immer wieder darin, während Marinka die Mannhunde für sich instrumentalisiert und – zunächst allein, später auch mit Lene – Jagd auf den Schuldigen macht.

Ivana Sokola hat hier einen Stücktext vorgelegt, in dem es um institutionalisierten sexuellen Missbrauch geht: Solche Vorfälle auf dem Dorffest normal, niemand tut etwas dagegen, niemand will etwas dagegen tun. Als Motiv dafür taucht immer wieder der brennende Krater von Derweze auf, der hinter dem Dorffest brennt, die Hunde, die ebenso gut junge Männer sein könnten, die ohne Moral, rein instinktgesteuert jagen. Erzählt wird all das in einer eigenartig erdigen, fast altertümlichen Sprache, in der sich die Darstellerinnen und Darsteller des Textes immer wieder verfangen wie in den Gummibändern des Bühnenbildes. Zur der trügerischen Dorfromantik trägt das ebenso bei wie die trachtenartig anmutenden Kostüme.

Sprachlich ungklücklich

Sokolas Text hat ein spannendes Thema: Da ist einmal der normalisierte sexuelle Missbrauch, hier am Beispiel von Dorffesten aufgezeigt. Dann ist da die Frage, inwieweit Selbstjustiz, oder: Rache, angemessen oder zumindest nachvollziehbar sein kann, wenn alle anderen Wege verschlossen sind. Man kann hier über den alten Spruch vom Menschen, der dem Menschen ein Wolf ist nachdenken, über die Frage, wo und wie Moral, staatliche Institutionen nötig sind und versagen können. Nur ist alles das in einem Textwust versteckt, der mal poetisch wirken kann, manchmal Poesiesimulation ist, manchmal aber auch nur ganz knappan der Grenze zur unfreiwilligen Komik  entlang schrabbt. Und sich in der aufgesetzt wirkenden Metapher des brennenden Kraters gefällt, die direkt aus Wikipedia abgeschrieben wirkt. Die Inszenierung in Göttingen setzt dem die Klarheit des Bühnenbildes entgegen, dennoch bleibt der Eindruck, dass sich hier ein Thema, das erkundenswert ist in einem Text verbirgt, der sich hinter zu viel Sprache und zu viel Bildern versteckt, wo er das eigentlich nicht müsste. Das federt die Wucht, die er entfalten könnte stark ab und sorgt für eine weiche Landung, die besser eine harte gewesen wäre.