Natalia Horecna: "Wounded Angel" mit Yuko Kato, Marcos Menha, Sonia Dvorak, Virginia Segarra Vidal und So-Yeon Kim

Himmel und Hölle

Remus Sucheana/Marco Goecke/Natalia Horecna: Concerto grosso Nr. 1/Lonesome George/Wounded Angel

Theater:Deutsche Oper am Rhein, Premiere:14.01.2017 (UA)

Hilfe! Ein Engel! Auf dieser Ballettbühne, die Martin Schläpfer und seine ausgewählten Gastchoreographen seit sieben Jahren mit Wesen bevölkern, die vielleicht vom Fliegen träumen, aber sich nie herablassen würden, weiße große fedrige Bilderbuchflügel an die Schultern zu schnallen. Und jetzt trägt die wunderbare Tänzerin Yuko Kato solche Dinger zum weißen Nachthemd und sieht natürlich aus wie ein Bild: Engel. Nein: trauernder Engel. Sie, er bewegt sich kaum. Lässt den Kopf hängen. Er wird auf einer Bahre, sitzend, hereingetragen, er siecht auf der untersten Stufe einer in den Himmel ragenden schmalen Treppe dahin. Als Zuschauerin leidet man im Stillen mit ihm mit, denn was die vierzigjährige Choreographin Natalia Horecna hier vierzig Minuten lang ablaufen lässt, ist künstlerisch unerfreulich. Ihr „Wounded Angel“ war eine von zwei Uraufführungen beim Ballettabend b.30, die leider beide die Treppe höherer Kunst nicht erklommen.

Immer wieder nach Choreographinnen Ausschau zu halten in dem von Männern dominierten Ballettgewerbe, ist sehr löblich. Natalia Horecna, die in ihrer Heimatstadt Bratislava tanzte, dann bei John Neumeier in Hamburg, schließlich bis 2012 beim Nederlands Dans Theater und seitdem als Choreographin hier und da gefragt ist, will hier vielleicht zu viel. Dieser verwundete, trauernde oder erschöpfte Engel soll offenbar einen Teil einer Persönlichkeit darstellen, der Hauptfigur, Marcos Menha, der immer wieder seine Nähe sucht, sich kümmert, aber auch wieder wegdriftet. Hinzu kommt Camille Andriot in einem spielfigurenhaft versteiften Kleidchen mit aufgemaltem Herz. Sie und Menha dürfen sich einen Augenblick lang verliebt anschauen und zart an den Armen berühren, dann hört die Einigkeit auf. Die Störerfigur heißt „EGO“, laut T-Shirt-Aufdruck, trägt einen Pömpel auf dem Kopf und ein Schwänzchen am Hintern, allesamt Kostümideen der Choreographin. Dieses Teufelchen, Rubén Cabaleiro Campo, macht ein bisschen Rabatz, zerrt an Menha, hält ihm irgendwann einen Spiegel vor. Es wird sozusagen vervielfacht durch vier Kollegen, die Namen schlechter Gefühle auf den Hemdchen tragen und sich untereinander nicht merklich unterscheiden. Diese nun machen mit vier Herz-Kolleginnen, die mit positiven Begriffen beschriftet sind, rumpelige Paartänzchen mit Heben, Drehen, Verhaken. Der gewollte Humor in einigen dieser Szenen kommt überhaupt nicht über die Rampe.

 „Poor me syndrome“

Damit schwindet der letzte gute Wille dahin, in dem wiederholten Raus und Rein, Miteinander, Ohneeinander, Gegeneinander den beabsichtigten ganz ganz tiefen Sinn zu erkennen. Dass „der Mann“, Menha, es schwer hat mit sich selber und zwischen Schlaffheit und anfallartigem wildem Wedeln schwankt, zwischen ruppiger Abwehr und kläglichem Nähebedürfnis, das wird aus wenigen kurzen Aktionen klar. Wozu das andere kindische Brimborium? Wie sagte noch Isadora Duncan selig vor hundert Jahren, sinngemäß: bloß keine Flügel an Tänzer kleben, den Engel muss der Tanz selber ausdrücken können.

Während Natalia Horecna sich mit Hilfe des Dirigenten Jean-Michaël Lavoie für die Düsseldorfer Symponiker Teile aus Kompositionen von Béla Bartók, Alban Berg und Danys Bouliane ausgesucht hat und das Duo Probosci wie Wandermusiker mit Hüten auf der Bühne folkloristisch Angehauchtes aufspielen lässt, Timba Harris und Gyan Riley mit Violine und Gitarre, belässt es Remus ?uchean? bei seiner Uraufführung bei einem Werk, mit kalkulierter Klarheit von den Symphonikern aufgeblättert: Alfred Schnittkes „Concerto Grosso Nr. 1“ von 1977. So auch der Titel des Balletts, des ersten, das Sucheana je geschaffen hat. Weil er ja nun Ballettdirektor ist, an der Seite des künstlerischen Leiters Schläpfer, muss er nicht erst klein anfangen. Beide hielten es für notwendig, dass so ein Chef nicht nur die Tänzerseite kennt, sondern auch die Erfahrung, vor und mit den Tänzern, für sie, etwas zu erschaffen. Das der Öffentlichkeit präsentierte Ergebnis war ein sympathischer, aber ziemlich scheiternder Versuch. Die stärksten Momente, wenn also Spannung oder Fragen durchs Geschehen zogen, waren jene, in denen Tänzer nur standen und schauten. Oder wenn jemand nur ging, Schritt für Schritt, wie im respektvollen Zwiegespräch mit dem Boden. 

Concerto, nicht ganz grosso

Von links oben ragen fünf Fenster herab, scheinbar ausgestülpt wie Röhrengänge an Flughäfen, nur eben eckig und ohne Anschluss: eine eindrucksvolle Kreation von Darko Petrovic, mit mattem Licht in wechselnden Farben. Wenn Schnittkes Musik mit Tönen auf einem scheppernden Klavier beginnt wie ein verstimmtes, verlorenes Lied, tritt Ann-Kathrin Adam auf, im einfachen halblangen Kleid und mit gesenktem Kopf. Bald wird sie von anderen, gleich Gekleideten, begleitet und angefasst, aufgerichtet, was sie abwehrt. Die anderen machen sich größer, vitaler, verschwinden, tauchen wieder auf, machen Gruppe, beugen sich, hüpfen, stampfen, starren sie an, die dann ihre eigenen Pirouetten dreht, schubsen sie und lassen sie allein. Die zweite von drei Hauptfiguren, Yuko Kato im roten Kleid, mit nach innen gekehrtem Blick, bekommt einen rotbehosten Herren bei- und angefügt, der sie hält und biegt und kurz anhebt, sowie drei tiefschwarze Bodenkriecher, die sich wie eine fiese Depression an ihre Fersen kleben. Nummer drei ist Marlúcia do Amaral im gelbgemusterten Kleidchen, die spielerisch mit den Händen flippt, mit den Füßen trippelt und häufig ihr Bein Amaral-mäßig in die Senkrechte streckt. Auch sie hat eine Entourage, einen Chor, der mehr stört als dass er dramaturgisch etwas zu sagen hätte außer „Menge“ zu sein, mal nah, mal ferner von der Solistin.

Sucheana lässt seine Tänzer oft wenden, schnell die Richtung wechseln, oder drehen auf flacher Sohle. Er zieht sie zu Boden, lässt sie rollen und Rad schlagen, aufstehen, die Hände und Knie strecken und anwinkeln, mal so, mal so, ohne erkenntlichen Grund. Das wirkt, bei den Gruppentänzen, unscharf und wird manchmal auch so getanzt. Natürlich fliegen Schläpferfloskeln durchs Geschehen; doch so lose hingeworfen und mit anderen Einfällen vermanscht, kommt ärgerliche Beliebigkeit auf. Dabei ist die Schnittke-Musik umso hörenswerter, ein ungeheuer ausdrucksvolles Wandern und Herumirren zwischen fernen, vielleicht schönen Erinnerungen, bis zum Cembalo-Barock, und bedrängenden Klangwolken oder hinabziehendem, giftigen Lärm. Dazu passte inhaltlich das für Streichorchester umgearbeitete Streichquartett opus 110 von Dmitri Schostakowitsch, das im Mittelteil des Abends die Grundierung für Marco Goeckes „Lonesome George“ bildete, eine Choreographie, die im Mai 2015 bereits Teil von b.24 war, benannt nach einer uralten Schildkröte, der letzten ihrer Art. Schön, den „George“ wiederzusehen: wie die anderen zwei in b.30 ein Stück über Einsamkeit, aber mit mehr Mut zum Tanz selber. 

Gepanzertes Leben

In dem ständig benebelten, schwarzen, kahlen, karg beleuchteten Raum der Bühne treibt die dunkel gekleideten elf Tänzer eine Hektik an, die aus jeder neckischen T-Shirt-Beschriftung herausgewachsen ist. Dieses Ellbogenklappern, Armerotieren, Schulternheben, Händezittern und das Abtasten des äußerlichen Körpers, rauf, runter, überkreuz, wirkt wie ein unablässiges Versichern der eigenen Existenz, ein Buddeln nach dem ewig Unfasslichen. Abgrundtief gute Kunst.