Gleich und förmig, Seelenketten

Sharon Eyal, Gai Behar: Corps de Walk

Theater:Hessisches Staatstheater Wiesbaden, Premiere:06.09.2025

In Wiesbaden wagt das Hessische Staatsballett zum Saisonbeginn mit „Corps de Walk“ einen schmucklosen Tanz auf die schwarzblanke Bühne im Großen Haus zu setzen: zwölf Körper in Weiß, wenig Licht und heftige Beats. 

Sharon Eyals Choreografien haben immer Power, die mitzieht. Das bewies wieder diese Premiere von „Corps de Walk“, einem Stück von 2011, einer Übernahme aus Norwegen. Gut abgehangen? Hängen tut hier gar nichts. Lose sind nur mal Fingerspitzen, die wie Würzelchen aus den konstant angespannten Körperwesen an die Luft oder in die Höhe wollen. Ins Freie. Doch schnell recken sich die Hände wieder gerade oder ballen sich.

Auch die Oberkörper. Beulen mal extrem den Brustkorb aus, als drängele das Herz unter den Rippen, oder Rücken biegen sich weit nach hinten über, um der ewigen Aufrichtung zu entkommen. Doch selbst wenn Arme pendeln oder Flügel imitieren, sind sie unlocker. Alles wird gehalten, geführt, gedehnt, gehoben, ausgebreitet und zusammengezogen. Oft schnell oder wie ein Schnippen, manchmal langsam. Und das immer in Formation. Fast immer.

Marsch mit Pirouetten

„Corps de Walk“ spielt titelgemäß aufs klassisch-romantische Ballett an mit seinen uniformen Gruppen und Tänzern, „corps de ballet“, die Volk, Adel, Geister, Vögel darstellen. Davor die Solopartien, die Geschichten tragen, eigene Leben. Hier aber gibt es nur Gruppe, im Gleichtakt zum Club-Techno-Beat, mal trocken, mal süffig, wie immer von Ori Lichtik angemischt. Die Füße tappen und tippeln darauf mit flacher Sohle oder halber Spitze, und Köpfe rucken. Verzerrte Menschen. Seltsam berauschte. Untote Figuren.

Das kennt mal fast alles von anderen, auch späteren Stücken von Sharon Eyal und ihrem Kompagnon Gai Behar, die ab 2011/12 sehr gefragt wurden, der Hype hält bis heute (Sondervorstellung bei der diesjährigen Ruhrtriennale wegen großer Nachfrage). Das Besondere hier beim Walk sind die Reihen. Wie ein Lehrstück für Choreografie. Oder als klammere sich diese dräuende Menge in ihrer schwarzen Welt an Ordnungen fest, um nicht zu platzen, zu schreien, auszurasten. Alle halten ja an sich. Oder etwas hält sie, was auch immer.

Es sind gerade Linien, einfache, doppelte. Längs, quer, diagonal. Oder zwei, einander gegenüberstehend an den Bühnenseiten. Oder vier. Sie treiben schrittweise vorwärts, zueinander hin – und durchqueren einfach die anderen. Wie ein Luftzug. Oder werden eins. Niemand stößt sich am anderen. Selbst wenn aus einer Doppelreihe Zweizeller entstehen, abkommandiert zum Paartanz, gibt es nur mechanisches Berühren: kurz, kühl, ein Bein vor, Arme rund, Schritt, Schritt, schon vorbei. Ob Mann, Frau, ist hier eh grundsätzlich kaum zu unterscheiden.

Abstände, Zustände

Der jetzige Direktor des Hessischen Staatsballetts, Bruno Heyndericks, der 2014 dort als Kurator begann, hatte vorher für die norwegische Nationalkompanie Carte Blanche gearbeitet. Er lud damals Sharon Eyal für eine Kreation ein: Das wurde „Corps de Walk“. Etwa zur gleichen Zeit holte Honne Dohrmann sie nach Oldenburg für „Plafona“. Dohrmann, jetzt in Mainz am Staatstheater, bekam von ihr dann noch „Soul Chain“ und „Promise“ für die Kompanie, Uraufführungen. Dem Publikum nebenan überm Rhein soll’s recht sein. Die Direktoren sprechen sich ab. Nun wachsen die Staatsballett-Tänzer:innen in diese Eyal-Intensität rein. Vorher hatten sie schon zwei Stücke von Ohad Naharin im Repertoire, bei dem Eyal lange getanzt hatte.

Corps de Walk am Hessischen Staatsballett

„Corps de Walk“ ist ein Tanz auf einer schwarzblanken Bühne. Foto: Sinah Osner

Die Wucht ihres Irrwitzes aus allerlei Beharrlichkeiten entsteht, wenn jeder einzelne Tänzer, jede Tänzerin wirkt wie allein auf weiter Flur. So etwa formulierte es die Choreografin einmal in einem Interview: bis ins Extreme zu gehen als kompletter Mensch, aus dem tiefen Innern heraus, nah am Herzen, im Gewirbel der Gefühle. Alles aus sich rausholen.

Drang, Zwang

Keiner aus dem „Corps de Walk“ geht je raus. Vereinzelt treibt mal jemand ein paar Meter aus Flock oder Reihe aus. Wie Ramon John, der mit unheimlich schnell auf und ab schnitzelndem Winkelarm von der Bühne weg zu wollen scheint, mit den üblichen angehobenen Knien, Schritt für Schritt. Kurz vorm Verschwinden wendet er und kehrt, weiterhin schnitzelnd, zur Gruppe zurück. Der Armwahn legt sich, automatisch.

Gegen Ende separiert sich eine andere Tänzerin, schiebt ihre Körpermitte tief zwischen die gebeugten Knie und die Hände an die Augen. Ein Nachtwesen, das seine Sicht verstellt oder verschärft oder sich maskiert. Oder trauert? Der Anfall infiziert die Gruppe, die das Gefühl durchs Vervielfachen auszulöschen scheint. Andere solcher Ausläufe bleiben folgenlos. Nur das Bild, die Symmetrie ändert sich. Erklären muss sich die Zuschauerin das Geschehen selber. Sich wundern.

Erst im letzten Viertel leiert der detailreiche, wenn auch nicht sensationelle „Corps de Walk“ etwas aus. Bis die letzte Bündelung oder Beunruhigung sich ins Auge reibt. Jetzt könnte etwas Neues beginnen. Das Licht erlischt.