Foto: Szene mit Mathias Theisen, Lucía Nieto Vera, Andrea Muelas Blanco und Julían Lazzaro © Susanne Reichardt
Text:Alexandra Karabelas, am 23. Mai 2023
Am Theater Heidelberg hatte Ivan Pérez neues Tanzstück „Reality and the Cosmos“ Premiere. Einmal mehr beweist der Leiter der Heidelberger Tancompagnie ein Gespür für Spiritualität, das er mit einer ausdrucksvollen Choreografie zu verbinden weiß.
Wie ein mit Sternen übersäter Nachthimmel glitzert die hintere Wand an der Bühne. Dazu baut sich ein zweites Traumbild auf: Von links schieben sich Tänzerinnen und Tänzer, Musikerinnen und Musiker mit ihren instrumenten in der Hand in Zeitlupe in den nachtdunklen Bühnenraum. Nebel umwabert ihre Beine. Die Bewegungen, eine Mischung aus Tanz und Tai-Chi in Slow Motion, lassen Laufen, Rennen, Gehen, sich Umdrehen, Rollen erkennen. Geigen und Klarinetten, ein Cello und Flöte scheinen so im All zu schweben, die Körper schwerelos.
Das beeindruckende Anfangsbild vom Beieinander von Stille und Musik als Vorstellung hat eine schlicht entrückende Wirkung. Jede Kausalität scheint hier aufgehoben. Zeit existiert nicht, alles ist gleichzeitig und vor allem ein Zustand, der sich unendlich langsam verändert. Wie bei der Erfahrung von Konzeptkunst, bei der das Kunstwerk, ausgehend von einem Wort, einem Lichtstrahl oder einem simplen Gegenstand in einem bestimmten Kontext, im Kopf entsteht, rasen hier die Gedanken: Die Welt wird gespiegelt als Bewegung und Klang und der Kosmos findet im Orchester seine entscheidende Metapher. Aus dem Zusammenwirken aller Einzelteile entsteht die Schöpfung.
Der Kosmos als Referenzebene
Als die Musikerinnen und Musiker Platz nehmen an ihren Pulten, verbleiben die Tänzerinnen und Tänzer in ihren sanften, ruhigen Bewegungen. Zuerst ist jeder auf sich selbst bezogen, dann reagieren sie sachte aufeinander. Zuerst nur zwei, dann immer mehr. Das Prinzip von Aktion und Reaktion wird als choreografisches Muster klar erkennbar. Das Ensemble stimmt das erste Musikstück an, Johann Sebastian Bachs Prélude aus Cellosuite Nr. 5.
Der Kosmos ist Rhythmus, Klang und Schwingung. Mehr wird dieses herrliche neue Tanzstück von Ivan Pérez mit dem Titel „Reality and the Cosmos“ nicht zeigen und nicht erzählen, und dennoch ist das genug. „Gott hat uns die Musik gegeben, damit wir erstens, durch sie nach oben geleitet werden“, schrieb der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche, für den die Musik gleichwohl auch der Geburtsort der Tragödie sein sollte, jener schuldhaften Verstrickung des Menschen in sein eigenes Schicksal auf der Erde. Es ist ein spezifisches Merkmal von Pérez, der seit 2018 als künstlerischer Leiter des dancetheatreheidelberg wirkt, genau davon auf der Bühne so wenig wie möglich verhandeln zu wollen. Der Kosmos als Referenzebene spielt bei ihm oft eine Rolle; mit „Reality and the Cosmos“ offenbart sich der Spanier dabei so offensiv wie nie zuvor als ein Künstler, den hohes spirituelles Verständnis auszeichnet.
Repräsentation des „Anderen“
Pérez nimmt es zum Ausgangspunkt für sein künstlerisches Schaffens. Es erklärt die Wahl seiner choreografischen Mittel und seiner Bilder, die aus reinstem Schwingen, Laufen, Rollen, Springen entstehen, alles sehr frei eingesetzt, als ob die Tänzer die gesamte Choreografie in Gemeinschaft selbst kraft eigener Entscheidung hervorbringen, oft mit einem Lächeln im Gesicht, sich ansehend, in der Gruppe mittanzend oder am Rande stehend und zusehend. Die Tanzbewegung ist immer Repräsentation des „Anderen“, auf das Pérez‘ Choreografie verweist, auch wenn er dabei auf die Schwelle stößt, dass davon nicht leicht zu erzählen ist.
Als Zuschauer erliegt man dem Sog oder man driftet ab. Beides ist in Ordnung. Denn man kehrt wieder zurück. Der Mensch in Pérez Stück ist auf der Erde, in der Realität, angekommen, hat sich individualisiert und inkorporiert, was auch der Wechsel der Kostüme verdeutlicht. Das Ensemble spielt mittlerweile die Komposition von Terry Riley,„C“. Der Nachthimmel wird zum Tag und strahlt in Farben. Die würdevolle hoffnungsvolle innere Haltung der Tänzer in diesen Momenten lässt an Jerome Robbins Ballett „Dancing at a Gathering“ aus dem Jahr 1969 denken.
Pérez lässt nun Stille einkehren. Alle verlassen in Ruhe nacheinander die Bühne, bis auf einen. Es ertönt in goldgelben Licht jetzt am Himmel Ludwig van Beethovens berühmtes Allegro aus der Sinfonie Nr. 5, jener umfassenden musikalischen Erzählung über Sieg, Niederlage, Kampf und Schicksal. Alle bevölkern erneut den Bühnenraum. Zucken mit den Körpern. Was die Musik in sich trägt, bringen die Körper zur Anschauung. Nicht verschwunden ist dabei der zeitlose Atem und die Gewissheit von der Präsenz des Makrokosmos in diesen mikroskopischen Szenen. Denn dieses Bild ist die ganze Zeit durchgehend da.
Zum Schluss wird die Bühne dunkel und ein heller großer Schweinwerfer als ewige Sonne wird sichtbar. Drei vereinen sich zu einer lockeren Variation. Es zählt der Kontakt.