Foto: Max An, Peggy Steiner und Jessey-Joy Spronk in „Die Walküre“ von Richard Wagner am Harztheater in Halberstadt. © Ray Behringer
Text:Roland H. Dippel, am 2. November 2025
Mit der „Walküre“ zeigt das Harztheater den zweiten Teil von Richard Wagners Bühnenfestspiel „Der Ring des Nibelungen“. Die Inszenierung von Marco Misgaiski wird zum messerscharfen Kammerspiel mit vorbildlicher Textverständlichkeit und gelungener musikalischer Leitung.
Der lange Schlussbeifall wuchs zur Standing Ovation und hatte weitaus mehr Berechtigung als Regionalstolz. Vor zwei Jahren startete das „Ring“-Projekt des Nordharzer Städtebundtheaters mit einem weithin gerühmten „Das Rheingold“. Als Herbstpremiere soll 2026 „Siegfried“ folgen. Wie bei Kay Metzgers „Ring des Nibelungen“-Zyklus vor knapp zwanzig Jahren am Landestheater Detmold, einem ebenfalls kleinen Haus, kamen die Vorzüge eines schlanken Apparates und geringeren Raumvolumen für Richard Wagners aufwändiges „Bühnenfestspiel in drei Tagen und einem Vorabend“ zur Geltung: Genaue Gestik und subtile Schärfung statt Dekorations- und Deutungsbombast.
Die im zweiten „Ring“-Teil verschränkten Handlungsstränge vom Unglück der inzestuösen Wotankinder Siegmund und Sieglinde und des Bewusstseins-Erwachens der von Göttervater Wotan in Schlaf versenkten Walküre Brünnhilde wurden auf der Bühne des Harztheaters plausibel und spannend vermittelt. Explosive Hochdramatik mit Opernüberlänge ereignete sich in einem verschlankten und bezwingend genutzten Rahmen. Die bei Wagner unerlässliche Textverständlichkeit – inzwischen sogar ein heißes Eisen bei den Bayreuther Festspielen – war vorbildlich, was die mit Logik entwickelte Personenregie begünstigte.
Bizarre und komplizierte Seelenregungen
Chefdramaturg und Hausregisseur Marco Misgaiski entwickelte mit dem Ensemble ein messerscharfes Kammerspiel. Zu den bizarren bis komplizierten Seelenregungen der Götter, Götterkinder, des Menschen Hunding und der Walküren gab es keine schwache Sekunde und keine schwache Situation. Regie und musikalische Leitung warfen sich Aktions- und Reaktionsbälle zu. Da war keine Nuance übertrieben und kein Klang zu laut. MD Johannes Rieger und die Harzer Sinfoniker legten einen klaren, keineswegs dünnen Untergrund zu Wagners flutendem, verzehrendem und aufpeitschendem Orchestersatz. Alles kam transparent, seidig bis sehnig und mit Spannung auch in Szenen mit einem langsamen, dabei immer gesangsfreundlichen Tempo.

Juha Koskela als Wotan in „Die Walküre“ von Richard Wagner am Harztheater in Halberstadt. Foto: Ray Behringer
Hier wirkte die Titelfigur Brünnhilde endlich einmal jünger als ihre Halbschwester Sieglinde, der sie bis zur tödlichen Entbindung von Wotans Hoffnungsträger Siegfried das Leben rettet. Peggy Steiner singt und gestaltet Brünnhilde als erwachsen werdendes Kind mit beglückend blühendem Sopran. Wie Brünnhilde erkennt, dass sich mit Empathie allein keine existenziellen Konflikte lösen lassen, wird intensiv bewusst.
Im Katastrophen-Flow
Jessey-Joy Spronk durchlebt die kurzen Ekstasen Sieglindes, deren toxische Ehe und Erschütterungsstöße im Katastrophen-Flow sehr reflektiert und emotional. Die anderen ziehen auf gleichem Level mit: Juha Koskela gibt einen Wotan, der in der Deklamation stärker punktet als im strömenden Melos. Max An ist ein leidenschaftlicher, dabei unbestechlicher und sicher singender Siegmund. Samuel Berlad wirkt als Hunding, der den Rivalen Siegmund vor den Göttern mit einem brutalen Axthieb erledigt, nicht ganz so schurkisch wie sonst. Regina Pätzer macht keine Ausnahme in der überregionalen Reihe von Fricka-Besetzungen. Die Hüterin der Ehe wird seit einiger Zeit in „Ring“-Inszenierungen zur Sympathieträgerin, wenn auch auf verlorenem Posten. Das Ensemble inklusive des Walküren-Oktetts kennt weder Ermüdungen noch Konditionseinbrüche. Nie forciert Rieger die Stimmen in den Selbstschutz vor allzu lautem Orchester.
Die mit Efeu überwuchernden Mauern des klassizistischen Saales von Tom Grasshof eröffnen ein Panorama auf deutsche Geschichte im langen 19. Jahrhundert – zu Wagners Lebenszeit und später. Aus dem Walkürenfelsen ragt der Eingang zu einem U-Boot. Wotan – wie ein Gründerzeitmagnat, der von großer Vergangenheit und Zukunft träumt – zwingt seine mit feiner Ironie gezeichnete Frauen-Soldateska zu einer Spiel- und Kostümshow. Im Harztheater spielen diese Szenen naheliegenderweise vor dem Barbarossa-Relief des Kyffhäuser-Denkmals.
Verharren in gebannter Stille
Auf Misgaiskis Deutschland-Paraphrase wirkten Heinrich Heines „Harzreise“, aber auch Thomas Manns Assoziationen zu Wagner und Ibsen unauffällig ein. Das Zwillingspaar Siegmund und Sieglinde kommt in Uniformen schnurstracks aus den Napoleonischen Freiheitskriegen und geht sehr behutsam miteinander um. Faszinierend gerät, wie Wotans Lieblingstochter Brünnhilde beim großen Disput Frickas und ihres Gatten Wotan dabei ist, sich dessen Tragweite in Brünnhildes Gesicht spiegelt und ihr autonomer Wille erwacht. Selten werden die weiteren Etappen der zunehmend kritischen Auseinandersetzung zwischen Wotan und der markant starken Brünnhilde so deutlich wie hier.
All diese theatralen Glücksmomente wirken derart intensiv, dass das Publikum über viereinhalb Stunden in gebannter Stille und Aufmerksamkeit verharrt. Im Zusammenwirken von intelligenter Fortune der Darstellung, überregional konkurrenzfähiger Meisterung der enormen musikalischen Ansprüche und positiver Ensembledynamik ist diese „Walküre“ ein Glücksfall – inklusive einer ganzen Reihe von Detailerkenntnissen und Aha-Erlebnissen. Absolut sehenswert.