Victoria Antonova, Alice Giuliani und Laila White in "Zer-brech-lich" an der Staatsoper Hannover

Vom Ende des Perfektionismus

Alessandro Schiattarella und Ensemble: Zer-brech-lich

Theater:Staatsoper Hannover, Premiere:23.06.2023 (UA)Regie:Alessandro SchiattarellaMusikalische Leitung:Richard Schwennicke

Bei den Theaterformen in Hannover erinnern drei Performerinnen mit besonderen Körpern an die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens. Mit „Zer-brech-lich“ gelingt Alessandro Schiattarella und seinem Ensemble eine überzeugende Erinnerung an die eigene Endlichkeit.

„Ich weiß, dass ich fallen werde“, sagt Victoria, und wir hören das mit gemischten Gefühlen, nachdem sie uns gerade erklärt hat, dass ihre Knochen nur wie mit Papier ummantelt sind, dass sie am rechten Knöchel eine Bandage trägt, weil er gern umknickt. Und dabei balanciert sie Schritt für Schritt über fahrbare Podeste, immer zu nah am Rand, nachher rückwärts die Stufen rauf. Das Verletzungsrisiko bei Balletttänzerinnen auf Spitze können wir besser wegblenden. Und, tja, am Ende: zerbrechlich sind wir alle auch. „Alles wird zerbrechen“, heißt es weiter im Text.

Die drei Performerinnen des Stücks „Zer-brech-lich“ von Alessandro Schiattarella, eine Koproduktion von Hannovers Staatsoper, Staatsschauspiel und dem Festival Theaterformen im Ballhof, zeigen ihre Zerbrechlichkeit. Manche könnten sie auch gar nicht verbergen. Laila White nutzt zwei metallisch leuchtende Krücken. Victoria Antonovas Hände haben keine ausgeprägten Finger, „meine Freundinnen nennen sie Katzenpfötchen“, erzählt sie. Alice Giuliani dagegen weiß, dass sie gut darin ist, als nicht-behindert durchzugehen. „Passing“ nennt sie das. Sie ist auf dem linken Ohr taub, und ihr rechtes Bein ist, wie man erst später in anderer Kleidung sieht, viel dünner als das andere.

Erinnerung an die eigene Zerbrechlichkeit

Um Passing geht es an diesem Abend eben genau nicht. Die drei Performerinnen werden uns jetzt nicht paralympics-mäßig vorspielen, dass sie perfekt synchrone drei kleine Schwänchen sein können. Vielmehr werden sie unter Nutzung ihrer besonderen Physis zu Aussagen kommen und die Zuschauenden an ihre eigene Zerbrechlichkeit in einem auf Selbstoptimierung getrimmten Weltbild erinnern.

Schon in ihrer Selbstvorstellung machen die drei Frauen deutlich, dass sie ihre Körper genau so lieben, wie sie sind, auch wenn ihre Körperteile manchmal nicht die üblichen Funktionen erfüllen. „Mein rechtes Ohr kann hören, mein linkes ist gut für Schmuck“, sagt Alice. „Mein linkes Bein kann springen, das rechte schläft gern.“ Laila hat den Narben auf ihrem Körper Namen gegeben. „Sie erinnern mich an bestimmte Situationen“, erzählt sie. Victoria gesteht ihrem zerbrechlichen Körper den Wunsch zu, Dinge kaputtzumachen und zu zerbrechen. Glühbirnen, Podeste, aber – angesichts ihrer verschiedengestaltigen Hände – auch Symmetrien, Vorurteile, „die toxischen Illusionen des Kapitalismus“. Und schon fällt sie mit Schwung durch die Mauer aus Schaumstoffsteinen.

Verweigerung der Leistungsschau

Terry Blühdorn, der Übersetzer aus dem Off, wird uns das als Wand des Abilismus deuten, des Systems körperlicher Bewertung von Menschen und eines nur der wirtschaftlichen Ausbeutung dienenden Perfektionismus, das immer wieder zwinge, die eigene Zerbrechlichkeit zu verbergen. Dem trotzen die drei sympathisch direkt. Sie verweigern die tänzerische Leistungsschau, entwerfen zu zarten Liedern von Gina Été unter Einbeziehung von meterlangem Mikrokabeln, beweglichen Podien und Krücken im Schwarzlicht eine eigene, koordinierte, vorsichtig, aber frei im Raum sich gruppierende Ästhetik des Tanzens.

Und sie gehen sehr offensiv um mit der Zerbrechlichkeit, wenn sie in grüner Kleidung vorm Greenscreen Aufnahmen machen, die nur die unbedeckten Körperteile im Video in neue Umgebung transponieren: Da winkt dann nur ein Arm aus dem Wüstensand, können die Körper aber plötzlich auch schwimmen wie eine Nixe und fliegen und werden unter dem platzenden Luftballon zu Sternenstaub. Damit koppelt Schiattarella das sozialpolitische Thema wieder rück mit der grundsätzlichen Erfahrung körperlicher Endlichkeit, und das mit einer fröhlich-poetischen Pointe.