Foto: Ewa Vesin als Ortrud. © Bettina Stöß
Text:Ulrike Kolter, am 15. September 2025
Die Staatsoper Hannover zeigt zur Saisoneröffnung einen szenisch wie musikalisch rundum gelungenen „Lohengrin“. Das Team um Richard Brunel betont die Relevanz des Stoffes um die Kriegsbestrebungen König Heinrichs – und die private Tragik der Figuren dahinter. Ob der Mythos einer Erlöserfigur nur Elsas Vision ist, bleibt offen.
Zuerst das Wichtigste: „Lohengrin“, der als Schwanenritter aus dem Nichts auftaucht, um vor mittelalterlichem Gottesgericht-Zweikampf der zu Unrecht angeklagten Elsa beizustehen, um sie dann nach kurzem Liebesrausch genauso schnell wieder verlassen zu müssen – diesen 1850 in Weimar uraufgeführten Opernmythos kann man durchaus noch zeigen. Nicht nur, weil „Lohengrin“ eine der politischsten Opern Richard Wagners überhaupt ist, die in den unklaren Verhältnissen des Deutschen Reiches in der Frage nach kollektiver Identität und Nationalismus entstanden ist. Auch, weil uns solche Fragen dieser Tage in Europa mehr denn je umtreiben. Man muss ihn auch deshalb erzählen, weil diese Mythen im privaten Kern nicht altern. Wer das nicht glaubt, sollte sich auf den Weg nach Hannover machen, wo die neue Intendanz erst im Schauspiel (mit Vasco Boenisch) und nun auch in der Staatsoper (mit Bodo Busse) unter Jubelstürmen des Publikums gestartet ist.
Zwischen Politik und Privatem
Der Regisseur dieses „Lohengrin“, Richard Brunel, ist Leiter der Opéra national de Lyon, mit der diese bildgewaltige Koproduktion von einem überwiegend französischen Team entstanden ist: Brunel, Catherine Ailloud-Nicolas (Mitarbeit Regie), Anouk Dell’Aiera (Bühne) und Nathalie Pallandre (Kostüme) setzen den Zwiespalt zwischen Politik und Privatem, zwischen Kriegsrealität und Traumflucht ins Zentrum ihrer zeitlosen Deutung.
Da ist einerseits König Heinrich (Shavleg Armasi), der in Brabant (dem heutigen Belgien) Soldaten für seinen Krieg gegen die Ungarn rekrutieren will, dafür aber keine Thronfolgestreitigkeiten gebrauchen kann, wie sie von Ortrud und Telramund angezettelt werden, seit der rechtmäßige Thronfolger Gottfried unter mysteriösen Umständen verschwunden ist. Soldaten brauchen stabile Führung. Dem gegenüber wird Elsa – als Beschuldigte am Tod ihres Bruders Gottfried – zum Spielball zwischen den Mächten, ihr privates Sehnen nach dem Retter und Schützer Lohengrin kann nur im Fiasko enden. Heute noch Hochzeitsfest, morgen auf in den Krieg alle miteinander? Wer möchte da nicht in Traumwelten abtauchen, ein „unerhörtes, nie gesehnes Wunder“ empfangen wie Elsa.
Generalmobilmachung, auch für Frauen
Um all die großen Chöre (phänomenal einstudiert von Lorenzo Da Rio) genauso wie intime Dialoge szenisch ineinanderfließen zu lassen, nutzt Anouk Dell’Aiera geschickt die Drehbühne, auf der ein unverputzt-graues Betonhaus steht. Gedreht formen weiße Wände mit spartanischen Treppen und Fenstern diverse Räume: Gottfrieds Kinderzimmer mit gemalten Vögeln an den Wänden oder gruselig herabhängenden Kolkraben; ein Saal fürs Gottesgericht, in dem ein Betonquader zur Richterbank wird und wo sich Chor und Extrachor auf einzelnen Treppenbereichen als Geschworene postieren.
Hier erscheint König Heinrich (mit majestätisch kraftvollem Bass: Shavleg Armasi) mit Rucksack und Lederjacke, macht sich Notizen zur Anklage, gibt sich väterlich besorgt um Elsa, die sich taumelnd nur im Zeugenstand halten kann. Bezeichnend ist, wo Lohengrin hier das erste Mal auftaucht: Während der Chor noch eingefroren das Wunder vom Auftauchen des Unbekannten bejubelt, steht jener bei seinen ersten Tönen noch im Dunkel der Seitenbühne mit dem Rücken zur Wand. Nur als Imagination Elsas? Das Aufeinandertreffen beider wird schnell vertraut, Hände berühren sich: Hier sind zwei ehrlich füreinander entbrannt, bis sich die Bühne wieder zum Chor zurückdreht.

Elsa im Käfig eingesperrt, der Chor bejubelt das eintreffende Wunder, während Federn vom Himmel fallen. Foto: Bettina Stöß.
Während der Heerrufer (neu im Ensemble, mit glasklarer Diktion eine Entdeckung des Abends: Peter Schöne) mit wenigen Handzeichen für Ordnung und Umbauten sorgt und Telramund nach verlorenem Zweikampf mit Lohengrin an Elsas Stelle in einen Käfig gesperrt wird, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Immer wieder gibt es eingefrorene, kunstvolle Tableaux, symbolschwer fallen Federn vom Bühnenhimmel – die Zeit bleibt stehen. Mit jedem Akt wird der Chor in Kleidung und Gebaren militaristischer, auf Plakaten wird die „Generalmobilmachung“ auch für Frauen bekanntgegeben. Im Brautchor schreiten sie rhythmisch zur Unterschrift für den Eintritt ins Militär…
Musikalisches Drama auf höchstem Niveau
So wünscht man sich Musiktheater: Wie die Inszenierung es schafft, den emotionalen Kern der Figuren herauszuschälen, so glückt auch die musikalische Gesamtleistung. Bemerkenswert ist das, weil fast alle Soli Rollendebüts abgeben, dazu harmonieren die Stimmen des Ensembles in Farbigkeit und Dynamik. Die litauische Sopranistin Viktorija Kaminskaite gibt ihre erste Elsa mit bronzenem Timbre, Maximilian Schmitt steht ihr als echter Sympathieträger zur Seite, mit großer Wandlungsfähigkeit zwischen souveränem Heerführer und sorgendem Geliebtem. Kraft und Ausdruck hält er in Balance, ohne jede Ermüdung bis hin zur wunderbar liedhaften Gralserzählung. Obwohl dieser Lohengrin in seinem grauen Pulli mit angeklebten Federresten und den schlohweißen Haaren eher aussieht wie Jesus: In dieser Erlöserfigur steckt ziemlich viel Mensch.

Elsa und Lohengrin, endlich allein. Foto: Bettina Stöß
Nahbar wie selten sind auch Ortrud und Telramund gezeichnet, vor allem der düster-langwierige 2. Akt wird zum darstellerischen Meisterstück. Ewa Vesin ist eine geborene Ortrud, die Partie liegt ihrer dramatischen Stimme sehr. Ebenso überzeugt Grga Peroš als Telramund in allen Nuancen zwischen wutentbranntem Forte und filigranem Sprechgesang. Nicht zuletzt obliegt eine wichtige Leistung des Abends Stephan Zilias am Pult des Niedersächsischen Staatsorchesters Hannover. Geradezu schmerzhaft zerdehnt er die ersten Takte aus dem Pianissimo heraus, bleibt bis ins Finale angenehm gemäßigt in den Tempi, fährt in der Dynamik derweil umso gewaltiger auf. Kein wackelnder Choreinsatz, selbst die vier Bühnentrompeten sind perfekt eingebunden.
Viereinhalb Stunden vergehen wie im Flug, bewegende Bilder bleiben. Etwa jenes, in dem Chordamen einzeln zurückbleiben, weil sie ihre Männer in den Krieg ziehen lassen müssen. Auch hier ist er leider zeitlos, dieser „Lohengrin“, von dem man sich gern eine Gesamtaufnahme wünscht.