Szenenfoto von „Unreines Blut“ von Bojana Nenadović Otrin an den Bühnen Halle. Zu sehen ist ein Tänzer im schwarzen Anzug, der das rechte Bein nach oben spreizt. Er wird an der Hand gehalten von einem Tänzer mit einem weißen Hemd, der mit angewinkelten Knien neben ihm steht.

In der Zeit gefangen

Bojana Nenadović Otrin: Unreines Blut

Theater:Bühnen Halle, Premiere:24.10.2025Vorlage:Unreines BlutAutor(in) der Vorlage:Borisav StankovićMusikalische Leitung:Yonatan CohenKomponist(in):Sergej W. Rachmaninow, Pjotr I. Tschaikowski, Petar Konjović, Sergej S. Prokofjew

An den Bühnen Halle zeigt das Ballett „Unreines Blut“, wie tiefgreifend patriarchale Strukturen die Würde und Selbstbestimmung einer jungen Frau im späten 19. Jahrhundert negieren. Dabei sind die Soli in den Choreografien von Bojana Nenadović Otrin artistisch und verblüffend originell.

Im Ballett der früheren, erfolgreichen Tänzerin und heutigen Choreografin Bojana Nenadović Otrin mit dem archaisch klingenden Titel „Unreines Blut“ geht es, wie in dem gleichnamigen Roman von Borisav Stanković, um einen klassischen Konflikt: Was festgefügte und verinnerlichte patriarchalische Verhältnisse für junge Frauen bedeuten, wenn die einen eigenen Weg ins Leben gehen wollen. Die Verhältnisse werden zur Fessel – wenn der Verfall einer Familie dazu kommt, wird es tragisch. Da ähnelt der in Serbien zentrale Roman den deutschen „Buddenbrooks“.

Die getanzte Version der Geschichte bekommt durch die beiden allegorischen Figuren, in denen die Zeit verkörpert ist, gleichsam eine rahmende Metaebene. Wenn Romelia Lichtenstein und Yulia Sokolik als Verkörperung der Linearen Zeit und der Zyklischen Zeit mit liturgischen Gesängen (aus Mokranjacs Liturgie des hl. Johannes Chrysostomos) in die Geschichte hineingleiten, imaginieren sie damit (auch ohne Übertitelung) einen atmosphärischen Rahmen. Deren Rolle geht dabei sogar über die Geschichte hinaus: Mit Blick auf etablierte Parallelgesellschaften inmitten unserer vermeintlich emanzipierten, liberalen Gesellschaft scheint, das Sich-immer-Wiederholende die Oberhand zu haben. So kann man es sehen, muss es aber nicht.

Sanduhr als Zeitmaschine

Die Zeit ist auf der Bühne von Vasilije Stojanović-Vasa ein riesiges Stundenglas, eine überdimensionierte Sanduhr aus Gitterstäben. In denen pulst das Licht von der oberen in die untere Hälfte so, als würde imaginärer Sand rinnen. Irgendwann pulst das Licht anders herum – als hätte jemand die Uhr umgedreht. In dieser eindrucksvollen, metaphorischen Zeitmaschine sind die Menschen zu Beginn wie in einen Käfig gesperrt. Erst, wenn der sich in zwei Hälften teilt, entlässt er die Menschen in ein Leben, das rein äußerlich linear verläuft.

Szenenfoto von „Unreines Blut“ von Bojana Nenadović Otrin an den Bühnen Halle. Vier Tanzpaare in einer Reihe nebeneinander im Vordergrund. Die Tänzer halten die Tänzerinnen an den Hüften, die sich seitlich nach unten beugen, alle Glieder gestreckt, die linke Hand zeigt zum Boden.

„Unreines Blut“ von Bojana Nenadović Otrin an den Bühnen Halle. Ensemble und Ballettakademie. Foto: Yan Revazov

Die tragische Heldin Sofka (Kanako Ishiko) geht am Ende im wahrsten Sinne des Wortes im Strudel dieser verrinnenden Zeit unter – als würde sie im Treibsand der Chancenlosigkeit versinken. Dafür darf sie sich zumindest einen Traum verwirklichen, den möglicherweise jede Tänzerin hat. Sie kann nicht nur am Boden entlang gleiten, Pirouetten drehen oder ihren Körper sprechen lassen – hier kann Kanako Ishiko durch eine Hängevorrichtung auch über dem Boden schweben, in die Höhe steigen, durch die Luft fliegen und sich überschlagen. Ihre Rolle gibt es noch einmal in Gestalt eines Kindes und mit Emma Borggrefe auch als Cellistin auf der Bühne. Es sind die Momente der inneren Freiheit und Sehnsucht, in denen Sofka mit sich bzw. ihrem Alter Ego am Cello allein und ganz bei sich ist. Diese Soli sind artistisch und verblüffend originell. Sie verbreiten stille Freude oder zumindest die Sehnsucht danach. Auch, wenn Sofka nach jeder dieser schwebenden Soli letztlich wieder auf dem Boden der Realität landet. Hier weitet sich die Choreografie ins Reflektierende und fasziniert durch diese Dimension.

Choreografie der Zerrissenheit

In der Geschichte verkauft der sich gravitätisch gebärdende Vater (Aurelian Child-de-Brocas) Sofka als Braut an den neureichen Bauern Marko für dessen noch halbwüchsigen Sohn Tomća (Haruto Goto). Den Neureichen stattet Johan Plaitano mit genau diesem Habitus überzeugend aus.

Szenenfoto von „Unreines Blut“ an den Bühnen Halle in der Choreografie von Bojana Nenadović Otrin. Ein Tänzer trägt eine Tänzerin über seine Schultern gelegt.

„Unreines Blut“ an den Bühnen Halle. Aurelian Child-de-Brocas als Efendi-Mita, der Vater und Kanako Ishiko als Sofka, seine Tochter. Foto: Yan Revazov

Dieser absurde „Deal“ geht auf jede denkbare Weise schief. Sofka scheitert mit dem Versuch, das Beste daraus zu machen und sich Tomća zu „erziehen“. Der erweist sich als „echter“ Sohn seines Vaters. Hatte der doch versucht, in der Hochzeitsnacht seinen Sohn zu „vertreten“. In dieser Szene kommt es mit den zwei gegeneinander getanzten, ausdrucksstarken Soli von Ishiko und Plaitano zum Tiefpunkt der Geschichte und zum emotional packenden Höhepunkt dieses Abends! Hier erlaubt eine Choreographie der Zerrissenheit, des inneren Kampfes, des Scheiterns, den beiden großartigen Solisten zur Hochform aufzulaufen.

Für diese 14. Szene liefert Prokofjew die maßgeschneiderten Töne. Überhaupt die Musik. Allein, was die Staatskapelle unter Leitung von Yonatan Cohen im Graben beisteuert, würde den Abend lohnen. Großes Pathos mit großem Orchester, mit einer Mischung aus Tschaikowski, Rachmaninow und Prokofjew. Dazu hierzulande eher unbekannte Komponisten, wie dem als Vater der serbischen Nationalmusik geltenden Stevan Stojanović Mokranjac und dem serbisch/jugoslawischen Komponisten Petar Konjović. Wenn alle am Ende in das große Gefängnis einer wie immer verlaufenden Zeit zurückkehren, muss man erstmal durchatmen.