Ensembleszene in „ArmAltArbeitslos“ am Theater Bremen.

Grimms Märchen als politisches Theater

Beate Seidel/Volker Lösch: AltArmArbeitslos

Theater:Theater Bremen, Premiere:15.01.2012 (UA)Vorlage:Gebrüder GrimmRegie:Volker Lösch

Bremens berühmtester Exportartikel – auf den Bühnen der Hansestadt funktioniert er als Ausgangspunkt für Touristen belustigendes Laientheater, verzaubert auch als Puppenspiel, ist in szenischer Grenzgängerei zwischen Schau- und Figurenspiel sowie Kinder animierendes Mitmachtheater zu erleben – und jetzt auch Anlass, Alltag menschlicher Stadtmusikanten-Schicksale in die Theaterkunst zu importieren.

Eben noch sozial ausgegrenzt, jetzt im Bühnenspotlight. Steht ja schon alles in der Fabel der vier ausgemusterten, immer braven Werktätigen. Nicht mehr richtig jung, noch nicht richtig alt, aber schon als „Minderleister“ verunglimpft und ihrer Existenzgrundlage, der Erwerbsarbeit, beraubt. Überflüssig, wertlos geworden. Frustriert der eigenen Zukunft entgegentrauernd: Perspektivlosigkeit? Quatsch! Gemeinsam sind sie stark, fassen Vertrauen in sich und ihr Können: in der Version für den Abendspielplan („AltArmArbeitslos“, Regie: Volker Lösch) wie im Familienstück („Die Bremer Stadtmusikanten“, die Uraufführung war am 13.11.2011, Regie: Karsten Dahlem). Dort würgt der Esel zuerst an seiner Altersarmut, die Katze ist mittellos einer zunehmend verkaterten Ehe entkommen, der (Polizei-)Hund verbiss sich in die falsche Wade: fristlose Kündigung. Nur der Hahn ist noch punkig jung, dem Scheidungskrampf der Eltern entflohen. Die Räuber, zynische Musikmanager, stehlen den Möchtegernmusikanten ihre letzten Träume … bis die Freundschaft siegt! Ähnlich schlicht, aber unversöhnlich fetzt Löschs Dokutheater den letzten Rest Märchenhaftigkeit von der Bühne.

Schauspieler sind Chorführer der maskierten Hahn-, Katze-, Hund-, Eselgruppe und stellen sprachlich pointiert die Einzelschicksale der dorthinein gecasteten Ü50-Bremer vor – während sich alle windeln und pudern lassen: Bild alltäglicher Demütigungen der Agentur für Arbeit. Titel und einige Regieideen entstammen der „ARD exclusiv“-Reportage „Alt, arm, arbeitslos“. Dort wie auf der Bühne wird Arbeitsministerin Ursula von der Leyens Aussage verhöhnt, die Älteren seien die Gewinner auf dem Arbeitsmarkt. Qualifiziert, motiviert, durch 30 Berufsjahre gereift an Erfahrungen – aber während bereits die Rente mit 69 diskutiert wird, ist schon für 50-Jährige nicht mehr ausreichend von der knappen Ressource Arbeit vorhanden. Auch Bremen kann da nicht Wunschort, Traumziel der Stadtmusikanten sein: 26 Prozent der Arbeitslosen sind dort über 50, Tendenz steigend. In keiner Altersklasse ist die Arbeitslosigkeit höher, in keiner ist man länger ohne Job. „Wir leben immer länger / wir sind immer gesünder / und wir sind immer trauriger / weil das eigentlich / gar keinen Spaß mehr macht“, sagt einer der Darsteller seiner selbst über das Leben zwischen Stellenanzeigenlesen, Bewerbungenschreiben, Mini- oder Ein-Euro-Jobs, Trainingsmaßnahmen. Weiterbildungen, Praktika: Hartz-IV-Armut. Und die Angst davor. Eine Schauspielerin erzählt, zum Bremer Intendantenwechsel kommenden Sommer werde sie arbeitslos, habe Angst, als Mittvierzigerin nicht mehr engagiert zu werden in einer Theaterwelt, wo 20-Jährige als Mutter Courage besetzt würden. So nutzt sie die Aufführung zum Vorsprechen, gibt die Medea. Hilf nichts. Die Räuber gebärden sich bereits wie in der Grimm’schen Vorlage die Ex-Arbeitgeber der Tiere: fordern den Tod der überflüssigen Alten.

Lösch meint hier ein Generationsproblem entdeckt zu haben, zeigt die Arbeitsplatzräuber (und Ausgrenzer) als Jungmenschen und diese als Smartphonebedienungsmaschinen in der schönen neuen Großraumbürowelt. Aber das 50plus-Team sammelt in einer Hörspiel-magischen Rezitation von Heiner Müllers „Herakles2/Hydra“ genug Mumm, um die Schnösel wegzujagen, Computerarbeitsplätze zu zerhacken, gewerkschaftliche Parolen zu skandieren, alles leerzuräumen – kann nun nach Formen selbstbestimmten Lebens suchen. Denn etwas Besseres als den Tod findest du überall. Lösch inszeniert nicht Betroffenheit, sondern die Kraft, die Wut, die Energien der Arbeitslosen: Revolutions- statt Resignationspathos. Politisches Theater, kunstvoll wie realitätsnah. Einfach aufklärerisch.