Szene aus "EastWest"

Grenzenloses Miteinander

Marguerite Donlon: EastWest

Theater:Theater Osnabrück, Premiere:02.04.2022 (UA)Regie:Marguerite DonlonMusikalische Leitung:Wladimir Krasmann, Marguerite Donlon

So hatten es sich viele leise erhofft und innigst gewünscht: nach zwei Corona-Jahren endlich wieder ein voll besetztes Theater. Am Ende der Premiere bietet das Publikum stehend seinen Applaus dar. Die Osnabrücker Ballettfans habe die neue Tanzdirektorin Marguerite Donlon bereits nach ihrer zweiten Produktion vollends ins Herz geschlossen. Der transkulturelle Spielplanschwerpunkt des Hauses mit dem Partnerland Syrien fand einen Höhepunkt mit „EastWest“.

Das Leerzeichen oder der Verbindungsstrich zwischen den beiden Worten ist eliminiert, weil Donlons Inszenierung – wie bereits Goethe vor 200 Jahren auf seiner imaginären Poesiereise „West-östlicher Divan“ – alles Trennende zerfließen lassen will. Und zwar im Austausch der vielfältig ausgestalteten Kulturen. „Wer sich selbst und andre kennt, / Wird auch hier erkennen: / Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen.“ Was nun konkret mit in Osnabrück lebenden Geflüchteten überprüft wird. Für „EastWest“ interagieren zwölf Tänzer aus zehn Nationen mit drei syrischen Musikern, einem russischen Pianisten sowie deutschen Schauspielern und Textern – unter Anleitung der irischen Choreografin.

Passend zum eingespielten „Go West“ der Village People nehmen erstmal folkloristisch gewandete Vertreter verschiedener Nationen auf der Bühne Platz. Ein eitler Geck von Talkshow-Moderator hetzt sie mit klischeesatten Fragen gegeneinander auf und findet alles „supi, klasse“. Das ist natürlich inakzeptabel. Schon werden Folgen angedeutet: MG-Geknatter durchsiebt den Raum, den jetzt ein zerbombtes, brennendes Haus begrenzt – solche Bilder kennen wir derzeit aus der Ukraine-Berichterstattung der Medien. Hier ist es aber ein Gebäude in Syrien, wo ja Wladimir Putins Diktatorenpartner Baschar al-Assad ähnlich kriegsverbrecherisch herrscht, wie Russland sich in der Ukraine verhält.

In die Kriegskulisse wird die Fluchtgeschichte des Darbukka-Trommlers Jan Hanna auf Arabisch eingesprochen und übersetzt, während er selbst über Tische balanciert, freundlich unterstützt vom Tanzensemble. Schließlich bekommt er sein Instrument überreicht. Ali Alyousef an der Oud steigt mit ein auf die arabische Rhythmik. Manuel Zschunke erklärt in einem furiosen Monolog, dass Begriffe wie Ost und West nur von einem fixen Standpunkt aus Sinn machen, in unserem Fall dem eurozentristischen. Das 28-beinige Tanzensemble übersetzt das Denken zwischen diesen Polen in weiche Pendelbewegungen von rechts nach links, was ein wenig nach Eisschnelllauf im Stehen aussieht, nur kunstvoll variiert und gestisch verziert.

Die temperamentvollen Tänzer bringen dabei Eigenheiten der Tanzkulturen ihrer Heimatländer mit ins Spiel und treten als Solisten ihrer persönlichen Ausdrucksweisen hervor. Mal beruhigen sie das Geschehen auch in kreiselnder Derwisch-Manier. Aus diesem stilistisch virilen Kauderwelsch schälen sich Pas de deux, um auf der Mann-Frau-Ebene die kulturellen Verständigungsversuche nachzuspielen – von Neugier über Zuneigung, Verständnis, Irritation, Ablehnung, Streit, Entzweiung bis hin zur Versöhnung. Fast unmerklich verschmelzen die Soloartisten dabei immer wieder zur Gemeinschaft, reichen einander die Hände, gehen aufeinander zu, umarmen sich. Zu hören sind arabische Popsongs. Wer gerade nicht in Aktion ist, sitzt Wasserpfeife schmauchend im Hintergrund.

Feier der Gemeinschaft

Wenn orientalische Trance-Beat-Landschaften oder Minimal-Techno-Tracks erklingen, wird das eben noch zerschundene Bühnenbildhaus mit Nebel in die Wolken gebeamt, Syrien & Co. einfach mal ignoriert und eine abgezirkelte Verschränkung von zeitgenössisch coolem Bewegungsrepertoire und grazilem Spitzentanz serviert, schwerelos und kraftvoll zugleich sowie garniert mit feiner Ausdruckstanz-Gestik bis in die zart gespreizten Fingerspitzen. Künstlerisch mutiger sind Momente des Improvisierens melodischer Arabesken in Ton und Tanz. Besonders beeindruckt Jouana Dahdouh mit Scat-ähnlichem Gesang und zeigt zudem, dass arabische Reaktionen auf Musik nichts mit Sport, Artistik, Ballettkanon zu tun haben, sondern elegant aus der Hüfte kommen.

Exemplarisch soll der Regieansatz in einer „My way“-Nummer vorgeführt werden. Der Song erklingt, ein Mann tanzt seinen „way“, indem er Wellen über den Körper laufen lässt. Eine Frau lässt daneben den Kopf rotieren – Her way. Eine Interpretation des Folgenden könnte so lauten: Aus Ignoranz, Selbstbehauptung und Maßregelungen entstehen Versuche, den Impuls des jeweils anderen nachzuempfinden, diesen aufzugreifen und einzubinden. Um schließlich die gegenseitige Fremdheit zu akzeptieren. Aber vielleicht ist das auch ganz anders gemeint. Denn vieles bleibt unverständlich an diesem Abend wie unübersetzt vorgelesene Lyrik, vielsprachig projizierte Texte sowie ein aktualitätsschuldig eingebautes ukrainisches Schlaflied.

Final sinken die Beteiligten zusammen, stumm, betend, verzweifelt, erheben sich stolz als eine Art Multikulti-Team, bremsen den niedergehenden Vorhang und zwingen ihn zur Umkehr. Daraufhin erblühen alle im wogenden Taumel, woraus sich ein partyfideler Reihentanz entwickelt – die orientalische Dabke. Dazu flattern videoanimiert weiße Tauben über die Bühne. Das ist jetzt nicht sonderlich subtil, aber eben Ausdruck des unbedingten Friedens- und Brückenbauwillens. Theatralisch spannender und aufschlussreicher wären vielleicht Einblicke in die Probenarbeit gewesen, also nicht die Harmonie des Disparaten auszustellen, sondern das Fremdeln, die Knackpunkte, Widersprüche, das Scheitern in der Zusammenarbeit stärker zu akzentuieren und dabei etwas über- und voneinander zu lernen. Aber in diesen Kriegstagen sind herzlich überzeugende Feiern des Miteinanders natürlich Labsal für die Seele. Wie gesagt: Standing Ovations!