Foto: Das Braunschweiger Ensemble vor dem Grün der Stadt. © Leszek Januszewski
Text:Andreas Berger, am 1. November 2025
Am Staatstheater Braunschweig sammelt Gregor Zöllig in seinem Tanzstück „Das Rauschen der Stadt“ Eindrücke aus Geschichte und Gegenwart. Dabei zeigt er Braunschweig zwischen grauen Häusern und grünen Blätterdächern, lässt aber das Leben am Stadtrand außen vor.
Eine Stadt in Bewegung. Während auf dem Video vom Tunnel zu den Bahnhofsgleisen alle geschäftig ihre Bahnen ziehen, schreitet die Tänzerin auf der Bühne quasi in Zeitlupe, als wollte sie jeden Moment, alle Eindrücke, die Tiefendimension der Stadt und ihrer Menschen erfahren. „Das Rauschen der Stadt“, wie Gregor Zöllig sein neues Stück am Staatstheater Braunschweig nennt, ist eine Erkundung der regionalen Befindlichkeiten zwischen einstiger Heinrich-der-Löwen-Stärke, Zonenrandgebiet und heutiger Forschungsmetropole.
In Braunschweig wird die Zeit gemacht, hieß ein Werbeslogan, weil hier die Atomuhr steht. Ausgehend von den nachgestellten Dreiecken der Gaußschen Landesvermessung bilden die Tanzenden zu Bachs reiner Architektur des Ricercar dann mit Armen und Händen eine Struktur aus Zeigern und kantigen Linien heutiger Digitalzahlen. Eine der eindrucksvollen Bildfindungen aus Bewegungen und Musik in diesem Episodenstück.
„Zu viele Löwen“ lautet ein Kommentar aus der Stimmensammlung des Ensembles. Wohl die Sehnsucht nach altem Glanz. Eine Tänzerin verfolgt eine andere mit dem Rasseln eines Löwen-Puzzles. Zu viele Krähen auch? Schwarz gewandet, die Arme wie Flügel gespreizt, dann in der Hocke trippelnd findet sich die Masse zusammen, wird eine marschierende Gruppe unter Führung eines vermummten Jedermanns. In Braunschweig wurde einst Hitler eingebürgert. Auch wenn am Ende alle tot umfallen, fehlt hier die Gefährlichkeit aus Menschenjagden und Folter.
Zwischen Leichtigkeit und Schwere
Aber es gibt auch das grüne Korrektiv: Blätterdächer auf den Videos aus Braunschweigs Parks begleiten die Tanzenden bei Spiel und Sport, ein fröhliches, relaxtes Heben, Tragen und Umarmen in kleinen Gruppen. Das kontrastiert gut mit den zackigen Ellenbogenbewegungen aus der Arbeitswelt, Hand vor dem Kopf oder im Mund, manchmal am schmerzenden Herzen. Hier tackert alles synchron zu Steve Reichs „Triple Quartet“.
Die Live-Begleitung des Streichorchesters unter Alexis Agrafiotis ist ein Plus der Aufführung. Besonders wenn zu Dvořáks Serenade und Regenschauern die Tanzenden mal alle Geschichte von sich waschen können, jeder sich selber hingegeben segelt oder auf dem Rücken kreiselt oder gar auf Wasserbahnen schlittert. Mit einem Walzer in lockerer Abendkleidung wird auch der kulturelle Ausgleich gefeiert, da lugen ein paar Gesichter aus dem Gemäldemuseum vom Video herein.

Noriko Nishidate im durchnässten Abendkleid. Foto: Leszek Januszewski
Hank Irwin Kittel lässt die Bühne mit ein paar Projektionsschleiern eher karg. Zur Stunde Null sind es Grauschleier, Trümmerräumen in der stark bombenzerstörten Stadt mit kissenähnlichen Sandsäcken. Dazwischen immer wieder suchen, finden, umarmen, Heimkehrer und Vermisste, eine starke Szene.
Doch aus den Trümmersäcken wird bald eine Mauer, man muss nun hochspringen, um sich zu sehen. Manchmal zucken sie zusammen wie von Grenzposten Getroffene. Ganz so depressiv war die Stimmung im Wirtschaftswunderland trotz naher Grenze eigentlich nicht. Im Verdrängen waren nicht nur die Braunschweiger schon immer gut. Bald greifen Hände durch die Wand, die Mauer fällt, großes Umarmen.
Inszenierte Stadtgeschichte
Zölligs „Rauschen der Stadt“ ist kein getanztes Stadtmarketing. Ob es genügend die Probleme und Aufbrüche einfängt, müsste man diskutieren. Die Migranten im Stadtbild, die Randzonen kommen nicht vor. Vielleicht ist es Teil der Wahrheit, dass es dieser Stadt an wahrer Diskussion fehlt, dass man sich harmonisierend-nivellierend durchschlängelt. „Man könnte mutiger und individueller sein“, wird als Kommentar auf der Bühne zitiert.
In einer langen Sequenz queren das Ensemble und die vielfach integrierten Statisten des Bewegungschors von krabbelnd bis aufrecht gehend die Bühne, dazu Bilder von der Fachwerkstadt bis zu modernen Hochhausbauten. Eine Geschichte der Zivilisation? Im Kontrast noch einmal die Spielenden unterm Blätterdach, das gerade an diesen Hochhäusern vor der Zerstörung steht. Sehr dezent.

Ein Baum wird Teil der Choreografie. Foto: Leszek Januszewski
Aber die Zukunft der Stadt ist grün: Der nur eine Baum aus der Prozession wird zuletzt in einen Flügel gepflanzt, an dem ein Tänzer spielt, während die anderen mit rotem Feinstaub schmeißen. Ein wunderbar poetischer Protest für Kunst und Natur in gefährdetem Umfeld.