Szene aus "Karl!"

Geschwisterbande

Susanne Frieling, Hannah Stollmayer: Karl!

Theater:Theater Konstanz, Premiere:24.09.2022 (UA)Regie:Susanne Frieling

„Hat er mich gekannt, gedacht, gewünscht, als er mich machte?“ – Es sind existenzielle und harte Fragen, die Miguel zu Beginn von „Karl!“ in den verdunkelten Publikumsraum der Werkstatt im Theater Konstanz fragt. „Besser kinderlos gen Himmel, als wenn beide vaterlos in die Hölle fahren“, fügt er an. Unweigerlich springt das Publikum gemeinsam mit Miguel direkt ins kalte Wasser der familiären Beziehungen und ihrer oft unausgesprochenen Zwischentöne.

„Karl!“ heißt nicht nur das Stück, das Regisseurin Susanne Frieling und Dramaturgin Hannah Stollmeyer so schlicht – und gerade deshalb so bewegend – auf die Bühne gebracht haben, sondern auch der Bruder von Miguel. Dass Karl eine Behinderung hat, habe er erst im Kindergarten bemerkt, erzählt Miguel. Schauspieler Miguel Jachmann, der seiner Hauptrolle seinen eigenen Vornamen gegeben hat, spielt die Figur des mittlerweile erwachsenen Geschwisterkindes, das hadert, liebt, strauchelt und sich wieder fängt so unmittelbar, dass es ihm von der ersten Sekunde an gelingt, eine unglaubliche Nähe zum Publikum herzustellen. Es lacht und verstummt mit ihm. Und es antwortet, wie von Miguel aufgefordert mit dem Fuß – mal kräftig, mal zaghaft und kaum hörbar – aufstampfend auf eine Salve an mal mehr, mal weniger unbequemen Fragen wie etwa: „Hast Du schon einmal über pränatale Diagnostik nachgedacht?“ oder „Würdest Du lieber ein Haustier oder einen Menschen mit Behinderung pflegen?“.

Doch Miguel stellt vor allem sich selbst den unangenehmen, in seinem tiefsten Inneren brodelnden Fragen. Beispielsweise erzählt er von seiner Jugend, als er eine Freundin mit seiner Vespa nach Hause bringen wollte. Und wie er Karl dann, weil seine Eltern ausgegangen waren, früher ins Bett brachte und losfuhr. Im Geldbeutel hatte er einen Zettel, auf dem stand „Kümmern Sie sich bitte um meinen schwerbehinderten Bruder“ – für den Fall, dass ihm etwas passieren würde. „Wäre es nicht vielleicht schöner gewesen, nicht so verantwortungsvoll sein zu müssen?“, fragt Miguel in die Stille.

Aufgefangen werden die in jedem Zuschauer still auftauchenden, individuellen Antworten auf Miguels Fragen durch Videoprojektionen aus den Schweizer Bergen: Das Publikum sieht ihn, wie er mit Karl (gespielt von Andy Böni, der mit seiner herzlichen Art sowohl Lächeln als auch Tränen der Rührung auf die Gesichter zaubert) wandern geht. Das Bergidyll nimmt der Thematik sofort die Schwere. Die Brüder hören Musik, Karl tanzt im Sitzen bei einer Pause auf einem großen Stein dazu. Miguel und Karl lachen aus vollem Herzen, üben und duellieren sich im Jodeln, das über dem Alpsee verhallt.

Schwere Verantwortungen

Szenenwechsel: Miguel geht mit seinen Eltern, die er selbst an verschiedenen Mikros mimt, ins Gespräch. Er sagt ihnen: „Ihr Eltern habt eine Aufgabe gekriegt und die müsst ihr auch zu Ende bringen – die Aufgabe kann nicht übertragen werden.“

Kurz nachdem er sich von seiner Verantwortung, die nach dem Tod der Eltern noch schwerer auf ihm lasten würde, freispricht, zeigt die nächste Szene auf der Leinwand, wie Miguel, der sein Geld vergessen hat, versucht den stoischen Mitarbeiter einer Seilbahn zu überreden, ihm die beiden Tickets zu schenken. Er habe Karl doch versprochen, dass sie auf den Gipfel fahren. Der Verkäufer bleibt hart, verweist auf die Regeln – drückt kein Auge zu.

Desillusioniert kehrt Miguel zu Karl zurück, schildert ihm die Lage, sagt ihm, er dürfe ruhig wütend sein und ihm das auch zeigen. Doch Karl – beziehungsweise Andy – lächelt nur und fragt, ob er Miguel helfen soll, die verlorene Bankkarte zu suchen. Die Grenzen zwischen Schauspiel und Realität verschwimmen, als auch die Filmcrew sichtbar wird und eine Mitarbeiterin sagt: „Ich habe noch nie einen so lieben bösen Menschen wie Dich gesehen, Andy.“ Alle lachen, Andy und Miguel fallen sich in die Arme, jodeln noch einmal um die Wette.

Auf der Bühne nimmt Miguel einen Brief zur Hand und liest daraus vor: „Ich habe keinen Bruder, aber wenn ich einen hätte, dann wärst Du das, Karl.“ Und damit ist in diesem Stück alles gesagt. Authentisch, jedoch nicht belehrend, nachdenklich, traurig und glücklich machend – manchmal alles davon zugleich: Mit „Karl!“ ist dem Team des Konstanzer Theaters ein Stück gelungen, das nicht nur direkt ins Herz trifft, sondern auch zeigt, dass vermeintlich schwere Themen nicht schwer sein müssen und noch viel mehr Raum verdienen, als sie mitunter auf den Bühnen bekommen.