Foto: Siegerin im Schönheitswettbewerb, doch als Firstlady verschmäht. © Christian Schuller
Text:Michael Kaminski, am 31. Mai 2025
Regisseur und Bühnenbildner Philipp Grigorian inszeniert am Stadttheater Gießen eine schillernde Politsatire: Mit dem Musical „Wintergreen for President!“ oder auch „Of Thee I Sing“ von George Gershwin gelingt eine deutsche Erstaufführung, die vor allem mit herausragender Musik zu begeistern weiß.
Wie wird man US-Präsidentschaftskandidat? Es bedarf dazu keiner Voraussetzungen, außer der, im richtigen Augenblick „Ich!“ zu rufen. Wie nun gelangt der Amtsanwärter selbst bei sinkenden Umfragewerten an die Macht? Indem er ein völlig unpolitisches, doch Sympathiewerte verschaffendes Thema besetzt. Am besten etwas mit Liebe. Bis auf diesen Punkt folgt Präsidentschaftsaspirant John P. Wintergreen seinem Impuls und dem Rat seiner Wahlkampfstrategen. Doch statt die Siegerin der eigens anberaumten Schönheitskonkurrenz als Braut heimzuführen, fällt sein Auge auf die Sekretärin des Wettbewerbs. Mary Turner backt unwiderstehlichen Karottenkuchen und erweist sich zudem als auf die Gründung einer Familie erpicht. Obschon Siegerin der Misswahl, bleibt daher eine glamouröse Southern-Belle wie die offenbar in Politikerkreisen bestens vernetzte Diana Devereaux auf der Strecke. Jedenfalls vorerst.
Politsatire aus den Jahren nach dem New Yorker Schwarzen Freitag
Mitten in der Großen Depression verhalf George Gershwins elegant-ironische Partitur auf seines Bruders Ira scharf- und spitzzüngiges Libretto dem Musical bei seiner Uraufführung im Dezember 1931 zu einem glanzvollen Broadway-Erfolg. „Of Thee I Sing“, so dessen originaler Titel, erhielt im Jahr darauf – als erstes Werk der Gattung überhaupt – den Pulitzer-Preis. Kein Wunder, es rührte an dem Nerv der Zeit. Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, gar Hunger drückten den sprichwörtlichen nordamerikanischen Optimismus nieder.
Politik schien sich aller Inhalte entledigt zu haben. Ämter – die Präsidentschaft eingeschlossen – waren zum bloßen Selbstzweck degeneriert. „Of Thee I Sing“ steckt die obwaltende Leere in attraktive Fummel. Persönlichkeit? Fehlanzeige. Macht aber nichts. Die Gießener landen mit der Deutschen Erstaufführung des Werks einen Treffer. Regisseur Philipp Grigorian belässt die Figuren in ihrer völligen Mittelmäßigkeit. Selbst die Südstaaten-Schönheit Diana wäre mitsamt ihrem Vampgehabe rasch wieder vergessen, wäre da nicht Gershwins Musik. Eben aus diesem Abgrund zwischen Belanglosigkeit der Figuren und den blitzgescheit-weltläufigen Nummern, die der Tonsetzer ihnen in die Kehlen schreibt, schlägt Grigorian Kapital.

Präsidentschaftskandidat muss zwischen Südstaatenschönheit und Sekretärin entscheiden. Foto: Christian Schuller
Eine Null wie Kandidat und bald darauf US-Präsident Wintergreen ebenso wie Sekretärin und später Firstlady Mary Turner gewinnen singend hör- und sichtbar an Statur. Pose ist dabei, doch auch eine ganze Portion Authentizität. Die Präsidentenberater und Minister wie ferner den ins Geschehen hineinfunkenden französischen Botschafter entlarvt Grigorian als Popanze. Ihresgleichen stapfen und marschieren durch plakative Rhythmen und melodische Konfektionsware.
Das Sujet legt Anspielungen auf den gegenwärtigen US-Präsidenten nahe. Klar, Inhalte lassen ihn wie Wintergreen kalt. Doch verfügt der aktuelle Amtsinhaber im Gegensatz zum Staatschef im Musical über markante Eigenschaften. Die Analogien sind also limitiert. Die Gießener begreifen es, nachdem sie anfänglich allzu sehr auf die Trump-Karte gesetzt hatten. Grigorian als sein eigener Bühnenbildner stellt die Drehscheibe mit allerhand Requisiten voll. Ein wenig gleicht das Ganze einem Trödelladen, erweist sich aber als funktional. Moritz Haakh kleidet die Figuren milieu- und typgerecht, Mary Turner zeigt sich zum Inbild der amerikanischen Mittelschichtsfrau stilisiert.
Brillantes Ensemble
Auch die musikalische Seite nimmt für sich ein. Unter Moritz Laurer sitzt dem Chor des Hauses jener Schalk im Nacken, der kräftig in Stimme und Spiel ausstrahlt. Vladimir Yaskorski lässt mit dem Philharmonischen Orchester Gießen Drive und Swing aus dem Graben steigen. Für die Titelfigur bietet Clarke Ruth seinen smarten Kavalierbariton auf. Sanglich wie auch durch ihre Sprechtechnik gewinnend, verkörpert Maya Blaustein Firstlady Mary Turner. Umwerfend legt sich Schauspielerin Izabella Radić spielerisch und vokal für die Southern-Belle Diana Devereaux ins Zeug. Immer wieder Kabinettstückchen liefert Tomi Wendt als zunächst verschusselter, final aber machlüsterner Vizepräsident Alexander Throttlebottom.
Übrigens verursacht Wintergreens Brautwahl eine Staatskrise. Weil es sich bei der verschmähten Südstaatenschönheit um eine ebenso illegitime wie weitläufige Verwandte Napoleons handelt, droht Frankreich mit Krieg. Wintergreen muss zurücktreten. Seinen Platz nimmt der Vizepräsident ein. Diana Devereaux avanciert zur First Lady. Ist das von Belang? Eher nicht. Amüsant aber schon.