Foto: Manos Kia als Marquis de la Force, Zinzi Frohwein als Blanche und Kyounghan Seo als Chevalier de la Force. © Theater Nordhausen/Roland Obst
Text:Roland H. Dippel, am 28. Januar 2018
Am Theater Nordhausen gelingt eine beeindruckend schlichte Inszenierung von Poulencs „Dialogues des Carmélites“.
Zum 110-jährigen Jubiläum bleibt das Theater Nordhausen auf dem Kurs einer umsichtigen und vom Publikum geschätzten Spielplanerweiterung. „Gespräche der Karmeliterinnen“ in der französischen Originalsprache wurde mit hoher Konzentration, starker emotionaler Beteiligung und langem Applaus aufgenommen. Das liegt an der starken Ensembleleistung, der genauen Inszenierung – und am Aufführungsort selbst.
In Nordhausen hat jede Nonne des Karmel-Klosters in Compiègne, auch die vom Komponisten nicht zu Charakteren geformten Minirollen, ihr individuelles Figurenprofil. Mehrere sind Chorsolistinnen des eigenen Ensembles. Die Partitur Poulencs, der nach der Uraufführung an der Mailänder Scala 1957 für seine tonalen Strukturen ins Kreuzfeuer der Avantgarde geriet, erklingt hier dicht und intensiv. Man hört sehr viel von ihren feingliedrigen Strukturen. Die Frauen zeigen in den umfangreichen Konversationen mit den sich oft verlierenden Details weitaus deutlichere Abstufungen als im dichten Orchesterklang größerer Säle. Auch die Choreinstudierung von Markus Popp zielt mehr auf Durchhörbarkeit als Fülle. Allenfalls die französische Diktion ließe sich optimieren.
Es spricht für Katharina Thomas Inszenierung, dass sie, genau wie Sibylle Pfeifers fast leerer Bühnenraum, ganz hinter das Werk zurücktritt: Ein roter Vorhang für die irdische Welt und wenige Metall-Konstrukte im Kloster – das ist fast alles, bis am Ende die Schwestern einzeln hinter die portalhohe Guillotine mit dem martialischen Fallbeil schreiten. Moritz Haakh gelingt mit den Habits, der den Karmeliterinnen von den Schergen zugeworfenen weltlichen Kleidung oder aber mit dem samtroten Blazer von Blanches adeligem Vater, der zu einem Marquis genauso passt wie zu einem linken Intellektuellen, tatsächlich Zeitlosigkeit. Dramaturgin Anja Eisner fragt, was für eine Relevanz dieses Martyrium für eine Stadt haben kann, in der die Christen nur noch einen mit Bevölkerungsanteil von 20 Prozent haben. Und sie fragt nach der Objektivität von Glorifizierung oder Kritik an religiös motivierten Martyrien (und Selbstmordattentätern). Katharina Thomas Antwort mit ihrer Personenführung ist verhalten und still, aber genau: Die Entscheidung zum Tod trifft jede Nonne für sich. Eine solche Freiheit oder Selbstbefreiung schädigt kein anderes Wesen, weil dieser Tod nicht ideologisch oder agitatorisch funktionalisiert wird. Der Weg der Karmeliterinnen zum Schafott ist solidarisch, durch ihn finden auch die sehr diesseitigen Reibungen hinter den Klostermauern ein Ende.
Mit jeder Nonne hat Katharina Thoma ein eigenes sinnfälliges Gestenrepertoire entwickelt. Ein Bespiel: Den Tod der Alten Priorin spielt Judith Christ mit allen Emotionen aus, aber er ist trotzdem keine ausladende Sterbeszene. Die Anstrengung für einen Abschied in Würde, der Schmerz und körperliche Hinfälligkeit machen beklommen, auch weil Judith Christ von der Deklamation nicht abweicht, kein einziges Mal Richtung große Vokallinie abschwenkt. Da merkt man, wie gründlich Bühne und Graben an einem gemeinsamen Strang ziehen. Michael Helmrath hält das mit Geschmeidigkeit und Durchhörbarkeit spielende Loh-Orchester Sondershausen im bestens ausbalancierten Fluss. Szenische Feinheit und vokale Realisierung sind in optimaler Kongruenz. Das hat Klasse wie schon Helmraths beeindruckende Nordhäuser „Salome“. Diese Einheit von instrumentaler Rundung und musikdramatischer Präsenz öffnet Räume für Hintergründiges. Manos Kia allerdings als Blanches Vater, Kyounghan Seo als ihr Bruder und der Beichtvater von Marian Kalus agieren etwas eindimensionaler. Da setzt Katharina Thomas Regie andere Schwerpunkte.
Im Zentrum steht klar die Figur der Blanche, die ihre quälend zermürbenden Angstzustände und damit später ihre Todesangst überwindet. Zinzi Frohwein ist mit ihrem großen lyrischen Sopran eine plausible Über-Besetzung. Mit enormen vokalen Ressourcen schärft sie den inneren Konflikt durch den Widerspruch von großer Ausstrahlung und dem sie kleinmachenden traumatischen Handicap Blanches. Die Protagonistin ist nicht zerbrechlich, sondern gebrochen. Zinzi Frohwein zeigt intensive Präsenz auch dann, wenn andere Figuren das Geschehen bestimmen. Deshalb steht die innere Entwicklung Blanches immer im Fokus, auch durch vertiefende Charakterisierung anderer Figuren. Carolin Schumann unterfüttert die ruppige Kargheit der strengen Schwester Marie, später der einzigen Überlebenden, mit hinter der dogmatischen Starre verborgener Fraulichkeit. Die bis ins stärkste Forte tragende stimmliche Wärme steigert sie von einer harten Skizze zum tief grundierten Relief. Eine andere Farbe bringt die in letzter Sekunde eingesprungene Faustine de Monès mit: Die vermeintliche Naivität der Schwester Constances wird durch sie zu gelebter Philosophie. Anja Daniela Wagner rutscht als Neue Priorin aus der dieser Figur gebührenden Aufmerksamkeit, weil sie das Anliegen der Inszenierung, mehr durch Charakterisierung als durch Posen zu überzeugen, perfekt verinnerlicht.
Eigentlich jetzt unnötig zu erwähnen: Dieser Abend zieht seine Energie und Überzeugungskraft mehr aus der harschen Haltung der zum Katholizismus konvertierten Katholikin Gertrud von le Fort, der Autorin des Quellentextes, als jenes mild-suggestiven Katholizismus französischer Prägung, dem sich Francis Poulenc gegen Ende seines Lebens näherte. Auch deshalb ist die sperrige und ohne Übertreibung deutliche Lesart in Nordhausen ein großer Wurf.