Glaubt man dem Bühnenbild, ist der Handlungsraum des europäischen Volkes ein steril anmutender Raum. Bloß keine Individualität! Weiße Wände, die mit Farbe und Pinsel im Laufe der 100 Spielminuten mehr und mehr in das typische Europablau getaucht werden. Dazwischen blitzen Zahlen im leuchtenden Gelb der EU-Mitgliedssterne auf. Europa ereilt jeden. Ob er will oder nicht. Die Akteure treten in Europas Erfolgssymbolen auf: Mit Damenkostüm und Herrenanzug gilt es, den Dienst für die Gemeinschaft ohne „menschelnde“ Attitüde abzuleisten. Die einzelne Biografie wird vom Gedanken an ein hehres Ziel zertreten. Europa sei dem Unglück preisgegeben, weil es sich nicht mehr auf seine Geister besinne, hört man von einem Mann, der besitzlos scheint und wohl doch das Wertvollste hat: Bewusstsein. In Europa wird ein Liebespaar wegen des reinen Terrorverdachts getrennt. Hier ängstigt sich eine Frau vor kryptisch nummerierten Gendefekten und findet dann die eine Bioformel, die sie mit der ganzen Welt verbindet. Hier sucht ein Gremium hastig nach irgendeiner gefälligen Kunst, um Geld auszugeben, das ansonsten wieder aus dem Budget gestrichen wird. Hier arbeiten Praktikanten selbstverständlich ohne Entlohnung.
Das geht nicht nur den Deutschen so. Im viersprachigen Stück kommen die polnische, kroatische und britische Nation stellvertretend für alle EU-Staaten ebenso zu Wort. Sprachrohre sind die Schauspieler, die den einzelnen Ländern entstammen. Durch die Mehrsprachigkeit gewinnen die verschiedenen Themenperspektiven an bedingungsloser Authentizität, im Theatersaal ist eine europäische Gemeinschaft spürbar: Jene, die mit den Entscheidungen der sogenannten Leader leben und deren Auswirkungen auf das Individuum verkraften muss. Das theatrale Experiment ist geglückt. Die Darsteller strotzen ausnahmslos vor Überzeugungskraft, spielen so ehrlich und gut, dass man ihnen kaum das „Schauspiel“ glauben mag. Die verschiedenen Prosodien der Mimen verleihen dem Stück einen sympathischen Zauber. Die Textvorlage „Europa“ hat ihre Geister gefunden.