Leben in der Rückblende
Stephan Kimmig beschäftigt sich nicht zum ersten Mal mit den Stücken von Herzberg. 2000 inszenierte er „Leas Hochzeit“ und „Heftgarn“ am Staatsschauspiel Stuttgart, 2011 alle drei Stücke am Deutschen Theater in Berlin. Und nun nimmt er sie sich nochmal am Münchner Residenztheater vor, unter dem Titel „Die Träume der Abwesenden“, der famos zusammenfasst, was diese Leben prägt. (Dass er vor dem dritten Teil noch einen neuen Monolog der Autorin einbaut, der die Mechanismen von Ausgrenzung deutlich machen soll, „Die Linkshändigen“, ist gelinde gesagt überflüssig und eher störend.) Die Anwesenden stehen im Schatten derer, die nicht mehr da sind.
Diesmal beginnt Kimmig mit dem Ende: die Familie und alle, die sich ihr zugehörig fühlen, versammeln sich an Simons Totenbett. Auf Hockern sitzt das Ensemble rund um Steffen Höld, der als greises Familienoberhaupt in einem Rollstuhl sitzt, merkwürdig verkrümmt, in einem gestreiften Bademantel. Schnell wird gestritten, die Stimmung ist angespannt, es hat sich viel angestaut. Von hier aus erzählt Kimmig die vorangegangenen Jahrzehnte in einer Rückblende. Max Rothbart führt als Dibbuk, als Totengeist, kommentierend und lenkend durch die Handlung, bis er schließlich in die Rolle von Isaac, Simons Sohn, schlüpft, der die neue Generation, das Weiterleben symbolisiert. Indem Kimmig das Ende an den Anfang stellt, lenkt er die Aufmerksamkeit vom Was auf das Wie: Woher kommt all der Groll zwischen den Figuren? Wo verlieren sie sich und einander? Wo sind die Brüche? Wie konnte es so weit kommen?
Alter Schmerz, neuer Schmerz
Die Bühne von Katja Haß ist leer, geprägt von verschiedenen Lichtstimmungen und wenigen Elementen im Raum. Für die Hochzeit ein Tortenbuffet, für den Mittelteil die Abdeckplanen der Renovierungsarbeiten, für den Schluss eine gigantische globusförmige Lichtskulptur. Wie Planeten sind verschiedene Lampen auf Kreisbahnen angebracht, sich kreuzende und kollidierende Umlaufbahnen. Kimmig vertraut den Menschen in diesem Raum, die im Laufe der Zeit altern und ihre Traumata doch nie los werden. Er seziert die Entwicklungen, arbeitet die Verletzungen heraus, die neue Verletzungen nach sich ziehen. Ob durch Tod oder Scheidung, keine Familie ist hier komplett und ohne offene Wunde. Da ist Zwart, der nie über den Tod seiner ersten Frau im KZ hinweg gekommen ist und all seinen Schmerz an seine zweite Frau Duifje weitergibt. Robert Dölle spielt ihn mit einer schillernden Härte, lässt den Schmerz zu Kälte werden. Da ist Lea, die zwei Mütter hat und doch verloren ist in der Frage, wie ihre Eltern sie einfach zurücklassen konnten. Liliane Amuat macht mit ihrem genauen Spiel ihre Entwicklung sichtbar, ihre allmähliche Resignation und die Unmöglichkeit, sich vom geerbten Ballast zu befreien. Da ist Pien, die im ersten Teil übermütig tanzt und sich verliebt, um von da an eine Enttäuschung nach der anderen zu durchleben, und die Lisa Stiegler mit einer beeindruckenden Wandlungsfähigkeit darstellt.
Über allem und allen liegt ein großes Schweigen, das nicht einmal bewusstes Verschweigen ist, sondern eher Sprachlosigkeit ob des Geschehenen. Wissen, das verloren ist. Und das lauter ist als alle Worte. Der Text von Herzberg fängt all das ein, den trotzigen und bitterbösen Humor; die unbeholfenen Versuche, das Unaussprechliche anzusprechen; die hilflosen Bemühungen, das Richtige zu sagen; die verpassten Chancen. Selbst wenn alle auf Leas Hochzeit ausgelassen tanzen, werden sie immer wieder ausgebremst. Dann fährt die Musik herunter, alle halten inne, und irgendeiner sagt einen dieser Sätze. Einen dieser Sätze, die alle runterholen auf den Boden, den Moment von Unbeschwertheit platzen lassen. Kimmig gelingt ein großer, psychologisch kluger Abend, der trotz seiner fünf Stunden mühelos die Spannung hält.